Ethisch konfliktfrei?

Durchbruch in der Stammzellforschung Die erstmalig gelungene Reprogrammierung menschlicher Hautzellen bedient diverse Interessen

Die Kommentare waren eindeutig: Bundesforschungsministerin Annette Schavan freute sich über den "großen Fortschritt", Stammzellforscher Jürgen Hescheler von der Universität Köln bezeichnete die Forschungsarbeit als "großen Schritt" und sein Kollege Hans Schöler vom Münsteraner Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin sprach von einer "Sensation", die "das Klonschaf Dolly in den Schatten stellen" werde. Dass die embryonale Stammzellforschung in der zweiten Novemberhälfte nach langer Abwesenheit in die Schlagzeilen zurückkehrte, hatte einen Anlass: Eine Arbeitsgruppe an der Universität Kyoto hatte Haut- beziehungsweise Bindegewebszellen erwachsener Menschen so verändert, dass sie embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) in Aussehen, Oberflächenstruktur und in einigen genetischen Eigenschaften stark ähnelten. Im Anschluss daran ließen die Zellen sich außerdem kontrolliert in einzelne Gewebetypen umwandeln. Zeitgleich, aber unabhängig davon erzielte eine Arbeitsgruppe an der Universität Wisconsin die gleichen Ergebnisse mit Zellen aus der Vorhaut eines Neugeborenen. Ein Traum der Stammzellforschung schien sich erfüllt zu haben: Die Reprogrammierung spezialisierter Zellen und damit die Gewinnung von pluripotenten, so genannten Alleskönner-Zellen aus dem Gewebe von Erwachsenen.

Argumentationsgymnastik

Ob die Eigenschaften der als "induzierbare pluripotente Stammzellen (iPS)" bezeichneten Kreationen denen von ES-Zellen tatsächlich so sehr ähneln, dass sie sie künftig ersetzen können, muss zwar noch eingehend untersucht werden, aber schon wird der politische Raum eifrig damit reprogrammiert: Während die Diskussion des Forschungserfolges in den USA unter dem Vorzeichen des beginnenden Wahlkampfes steht, platzte die Meldung hierzulande mitten in die Diskussion um eine Verschiebung des Herstellungs-Stichtags für importierte ES-Zelllinien. Seit dem Sommer machen verschiedene Abgeordnete aus CDU, FDP und SPD im Verbund mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft gegen das Stammzellgesetz mobil: Neben der Stichtagsregelung möchten einige Abgeordnete auch gleich noch andere lästige Restriktionen der Embryonenforschung aus dem Weg räumen, etwa das Verbot, an Forschungen im Ausland zu partizipieren, bei denen Embryonen verbraucht werden.

Zunächst schien diese Initiative durch die Forschungsergebnisse in Kyoto und Wisconsin an Boden zu verlieren: So triumphierte Mechthild Löhr von den Christdemokraten für das Leben, es müsse künftig "kein Embryo mehr getötet werden, um die pluripotenten Stammzellen zu gewinnen". Auch die forschungspolitische Sprecherin der Grünen, Priska Hinz, betonte, dass "es durchaus möglich ist, erfolgreiche Forschung ohne die umstrittenen embryonalen Stammzellen durchzuführen" und forderte, die Stichtagsregelung nicht zu ändern. Doch diese Lesart wurde schnell übertönt.

Deutsche Stammzellforscher beeilten sich umgehend zu versichern, dass echte ES-Zellen nach wie vor wichtig für die Forschung seien: Wer den Schluss ziehe, es könne "von nun an sofort auf die Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen" verzichtet werden, so etwa Hans Schöler, "begeht einen schweren Denkfehler". Schnell waren auch die politischen Protagonisten einer Gesetzesänderung zur Stelle. Es sei "kein Zufall, dass diese Ergebnisse nicht mit deutscher Beteiligung erreicht wurden", kommentierte etwa Michael Kretschmer, Forschungsexperte der CDU/CSU-Fraktion, die Meldungen aus Wisconsin und Kyoto. Forschungsergebnisse, die nur wenige in ihrer Tragweite verstehen, sollten von Nichtwissenschaftlern nicht als Argument gegen eine Verschiebung des Stichtags benutzt werden. Und Forschungsministerin Annette Schavan meinte, dass die Reprogrammierung spezialisierter Zellen ohne Embryonenforschung nicht möglich gewesen wäre. Sie halte deshalb "eine einmalige Verschiebung des Stichtags für verantwortbar".

Im Ergebnis der Argumentationsgymnastik ist nun auch die CDU mit im Boot. Aus der Perspektive des Lebensschutzes hatte insbesondere die Basis der Partei bisher gegen eine Aufweichung des Stammzellgesetzes opponiert. So votierten kürzlich die Teilnehmer des CDU-Parteitages in Hannover nach zweistündiger Diskussion mit hauchdünner Mehrheit für ein von Forschungsministerin Schavan initiiertes und von Parteichefin Merkel unterstütztes Positionspapier, das zwar betont, "dass von Deutschland kein Anreiz für eine verbrauchende Embryonenforschung ausgehen darf", einer Verschiebung des Stichtags aber zustimmt. Damit steht einer Änderung des Stammzellgesetzes kaum noch jemand im Weg.

Das Mantra vom Gewebeersatz

Argumentative Taktiken dieser Art sind ob ihrer Redundanz sicher weit davon entfernt, Empörung hervorzurufen. Anders verhält es sich mit dem durch ständige Wiederholung zunehmend wirkmächtiger werdenden Mantra von der Heilung durch Gewebeersatz. Wohl in kaum einem Bereich der so genannten Lebenswissenschaften klaffen die geweckten Erwartungen und die Realität so weit auseinander wie bei der embryonalen Stammzellforschung. Die Forschung an toti- oder pluripotenten Zellen ist Grundlagenforschung: Es geht darum, zelluläre Prozesse zu beobachten und früh in der Entwicklung stattfindende genetische und molekulare Vorgänge mit späteren biologischen Eigenschaften des menschlichen Organismus´ in Beziehung zu setzen. Es ist kein Zufall, dass sich Pharmaunternehmen herzlich wenig für die embryonale Stammzellforschung interessieren. Wie die EU-Kommission kürzlich auf Anfrage der grünen Europaabgeordneten Hiltrud Breyer mitteilte, investiert die Industrie nicht in den Forschungsbereich. Private Mittel fließen in der Regel in die Verwendung von adulten Stammzellen bei der Wiederherstellung von Knochen-, Herz- und Hautgewebe.

An eine Transplantation von aus embryonalen Zellen gewonnenem Gewebe jedenfalls ist nicht im entferntesten zu denken. Säugetiere, denen solche im Labor erzeugten Zellen implantiert werden, entwickeln regelmäßig bösartige Tumoren. Auch die neuen, "ethisch konfliktfreien" Zellen (Tagesthemen) sind für die Anwendung am Menschen vollkommen ungeeignet. Die Gene, die den Reprogrammierungsprozess vermutlich angestoßen haben, wurden mit Retroviren in die Zellen eingebracht; Retroviren aber bauen ihr Erbgut in die Wirtszelle ein und verursachen so Veränderungen der DNA, in deren Folge aus normalen Zellen Krebszellen werden können. Zulassungsbehörden, so der Chef des kalifornischen Unternehmens Advanced Cell Technology, Robert Lanza, würden "uns niemals erlauben, solche mit Viren veränderten Zellen bei Patienten anzuwenden." Hinzu kommt, dass eines der in die Hautzellen eingebrachten Gene als krebserregend gilt.

Die Möglichkeit, für einzelne Patienten gezielt Gewebeersatz herzustellen, ist auch nach der gelungenen Reprogrammierung nicht näher gerückt; die Methode ist dafür nicht nur ungeeignet, sondern schlicht zu riskant. Ob bei dem Verfahren tatsächlich die für die Forschung geeigneten pluripotenten Zellen entstehen, muss sich erst noch zeigen. Allerdings hängt es nicht nur von den Ergebnissen dieser Untersuchungen ab, ob die Methode die Verwendung menschlicher Embryonen für die weltweite Stammzellforschung überflüssig machen kann: Laut New York Times hat die Universität Wisconsin bereits ein Patent für das Reprogrammierungsverfahren beantragt.

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