Sogar der Zug will heute gern ein wenig schwitzen. Es ist der erste heiße Frühlingssonntag, und der Regionalexpress 38009 soll den Berliner Ostbahnhof in ein paar Minuten fahrplanmäßig Richtung Frankfurt (Oder) verlassen. Die Waggons sind voll mit Ausflugslustigen: Familienväter verstauen die Picknickkörbe, Radler studieren ihre Karten, Kinder springen ausgelassen durch den Gang. Kaum jemand stört sich an den drei Uniformierten, die langsam durch den Zug gehen und die Gesichter der Fahrgäste aufmerksam mustern. Auch die BGS-Streife, die im hinteren Teil des Wagens Papiere von zwei Vietnamesinnen kontrolliert, kann die Stimmung nicht trüben. Als die beiden Frauen aufstehen und mit den Beamten hinaus auf den Bahnsteig gehen müssen, verrä
28;t nur eine ältere Dame, dass sie den Vorgang registriert hat: Das sei doch wieder typisch, zischt sie dem Herrn neben sich zu und wirft den Vietnamesinnen einen tadelnden Blick hinterher.Nicht nur solche Reaktionen, auch BGS- und Polizeikontrollen wie diese sind seit Jahren Normalität in der Bundesrepublik. Einziges Kriterium für die Beamten: das "ausländische" Aussehen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Menschen ohne deutschen Pass gegen die zahllosen Sondergesetze und Auflagen verstoßen, denen Flüchtlinge in diesem Land unterliegen. Gerade in Zügen. Denn Züge sind ein Mittel, sich an einen Ort der Wahl zu begeben. Und das ist Flüchtlingen nicht gestattet. Unter der beschönigenden Bezeichnung "Residenzpflicht" werden sie seit dem Inkrafttreten des Asylverfahrensgesetzes 1982 in Sammelunterkünfte eingewiesen und dürfen den jeweiligen Landkreis nicht ohne behördliche Erlaubnis verlassen, denn ihr Aufenthaltstitel gilt nur für diesen bestimmten Verwaltungsbezirk.Unter den vielfältigen Sonderregelungen und -gesetzen für Ausländer hat die Residenzpflicht eine besonders lange Tradition: Bereits in dem vor 1982 geltenden Ausländergesetz von 1965 war vorgesehen, Asylsuchende in Sammellagern unterzubringen. Auch der Aufenthalt konnte räumlich beschränkt werden. Ein kurzfristiges Verlassen des Bezirkes war aber ohne weiteres möglich. Seit 1982 muss buchstäblich für jeden Schritt über die Grenzen des Landkreises ein schriftlicher Antrag an die zuständige Ausländerbehörde gerichtet werden. Eine Erlaubnis kann nur dann erteilt werden, wenn die Gründe, die der Flüchtling für seinen Wunsch angibt, "zwingend" sind. Wann das der Fall ist, liegt im Ermessen der Ämter. "Die Erteilung einer Erlaubnis folgt keinen festen Regeln. Es kommt sehr darauf an, wer den Antrag bearbeitet und welche Einstellung er zu Asylsuchenden hat", erzählt Robert Schilling (*) von der Flüchtlingsorganisation VOICE.Neben diesen für amtliche Willkür extrem anfälligen bürokratischen Hürden gibt es finanzielle. In den meisten Bundesländern wird eine Bearbeitungsgebühr zwischen 15 und 20 Mark pro Erlaubnis erhoben - ein Viertel des Flüchtlingen zur Verfügung stehenden monatlichen Taschengeldes von maximal 80 Mark. So wird ein Besuch bei Freunden, die Reise zu einer Veranstaltung oder die Versorgung eines erkrankten Familienmitglieds in einem anderen Verwaltungsbezirk schnell zu einem kriminellen Vorgang: Wer im falschen Landkreis von Polizei oder BGS ohne eine Erlaubnis angetroffen wird, muss mit einer Geldstrafe von bis zu 5.000 Mark rechnen, bei Wiederholung auch mit Gefängnis bis zu einem Jahr. Außerdem droht dann die Abschiebung. Erst Mitte letzten Jahres erhielt ein Mann aus Sierra Leone, der für die Teilnahme an der "Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen" durch das Ruhrgebiet und Bayern seinen Landkreis ohne Erlaubnis verlassen hatte, einen Ausweisungsbescheid. Er habe sich strafbar gemacht und stelle deshalb ein Sicherheitsrisiko für die freiheitlich demokratische Grundordnung dar, so die Begründung."Die Residenzpflicht ist eins der wichtigsten Instrumente für die Kriminalisierung von Flüchtlingen", sagt Schilling. Ein großer Teil der in der Statistik erfassten so genannten Ausländerkriminalität umfasse Straftaten im Zusammenhang mit der Residenzpflicht. "Sie können in jedes beliebige Flüchtlingswohnheim gehen und werden kaum jemand finden, der mit diesem Gesetz nicht schon einmal Probleme hatte." Insbesondere Flüchtlingen, die an politischen Versammlungen und Veranstaltungen teilnehmen möchten, verwehren die Behörden oft die Erlaubnis. Diese Praxis wird durch eine Reihe von Gerichtsurteilen gestützt. Darin wird Asylsuchenden unter anderem unterstellt, sie wollten durch eine politische Betätigung im Nachhinein Gründe für eine Verfolgung im Heimatland schaffen. "Das ist zynisch", sagt Nina Fischer (*) von der Antirassistischen Initiative Berlin. "Für die Verfolgten ist politische Arbeit oft die einzige Verbindung zwischen ihrer Vergangenheit und der Gegenwart im Exil."Wiederholt hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) die Residenzpflicht kritisiert. Flüchtlinge sind mit ihren Anwälten außerdem in den vergangenen Jahren immer wieder juristisch gegen Strafbefehle wegen Verstoßes gegen die Residenzpflicht vorgegangen. Nur ein Fall ging bisher vor das Bundesverfassungsgericht. In dem Verfahren von 1997 befanden die Richter, dass die Residenzpflicht das Grundrecht von Flüchtlingen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit durchaus beschneide, aber in einem vertretbaren Ausmaß. Durch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit werde schließlich "eine Dezentralisierung der mit der Aufnahme von Asylbewerbern verbundenen Aufgaben erreicht und eine ordnungsrechtlich unerwünschte Konzentration von Asylbewerbern etwa in bestimmten großstädtischen Zentren vermieden".Mit den Aktionstagen gegen die Residenzpflicht vom 17. bis 19. Mai wollen die Flüchtlinge sich jetzt offensiv gegen die selbstverständliche Einschränkung ihrer Grundrechte und den demütigenden Alltag der Anträge und Begründungen zur Wehr setzen. "Niemand wird eine Erlaubnis beantragen, um an den Aktionstagen in Berlin teilzunehmen. Wir werden kollektiv und öffentlich gegen die Residenzpflicht verstoßen", sagt Robert Schilling, "weil wir das Recht haben, uns frei zu bewegen." Eine Unmenge Zusagen hätten sie für das geplante Camp auf dem Berliner Schlossplatz, allerdings fehle es an Geld für die Anreise der Flüchtlinge."In keinem anderen Land wird die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen in diesem Ausmaß eingeschränkt", empört sich Nina Fischer. "Nur in Südafrika während der Apartheid gab es Passgesetze für Farbige, die mit der deutschen Residenzpflicht für Flüchtlinge vergleichbar sind." Tatsächlich herrscht in den EU-Staaten grundsätzlich Bewegungsfreiheit für Flüchtlinge und Asylsuchende. In den Ländern, in denen ein Recht auf Sozialleistungen besteht, werden Flüchtlinge allerdings indirekt an einen Ort gefesselt, weil ihnen nur dort Zugang zu solchen Leistungen gewährt wird. Nirgendwo verstoßen Asylsuchende aber gegen ein strafbewehrtes Gesetz, wenn sie sich frei bewegen.Das ficht die Bundesregierung nicht an. Erst im April hat Deutschland bei Verhandlungen im Europäischen Rat der Innenminister durchgesetzt, dass es den einzelnen EU-Staaten überlassen bleibt, wie sie die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen regeln. Der Europa-Referent von Pro Asyl, Karl Kopp, berichtet, das Bundesinnenministerium habe "frühzeitig klar gestellt, dass es bei der Residenzpflicht zu keinerlei Kompromissen bereit sei". Was der Widerstand der Flüchtlinge in diesen Tagen gegen einen so vehementen politischen Willen ausrichten kann, hängt sicherlich auch davon ab, wie widerstandslos die Inhaber deutscher Pässe die Einschränkung existenzieller Grundrechte von Flüchtlingen hinnehmen.(*) Namen geändert