Allmächtig im Homeoffice

Häusliche Gewalt Viele verbinden mit dem Begriff plakative Bilder. Aber gerade im trauten Heim ist sie anfangs nahezu unkenntlich
Ausgabe 16/2021
„Der Luftdruck sank, wenn sie sich näherte, wie wenn ein Gewitter über das Meer kommt.“
„Der Luftdruck sank, wenn sie sich näherte, wie wenn ein Gewitter über das Meer kommt.“

Foto: Alexis Huguet/AFP/Getty Images

Gewalt ist trügerisch. Sie kommt in mancherlei Gewand daher. Dunkel, blutrot, vor allem schillernd. Besonders im trauten Heim ist sie nahezu unkenntlich zu Beginn. Häusliche Gewalt ist flexibel wie ein Chamäleon. Sie assimiliert sich und passt sich dem Lebensraum ihrer Opfer an. Sie lockt mit einer Camouflage, welche die Bedürfnisse ihrer Zielobjekte spiegelt. Häusliche Gewalt ist verwandt mit Manipulation, die andockt an ein Ur-Sicherheitsbedürfnis. Will man die fatalen Verstrickungen in Gewaltsituationen aufdröseln, muss man sich Bedürfnisse und Machtkonstellationen auf beiden Seiten bewusst machen. Gewalt taucht auf, sobald sich ihr eine Gelegenheit bietet. Wissen wir das, haben wir zumindest eine Chance, Spiralen der Gewalt zu stoppen.

Insofern ist diese Kolumne aufklärerisch zu nennen. „Häusliche Gewalt“ ist das Sujet. Diese offenbart sich aber nicht im Offensichtlichen. Bei häuslicher Gewalt denken wir zuallererst an Gewalt gegen Frauen und Kinder, an brutale Schläger, an sexuelle Gewalt und Femizid. Gewalt in der Familie aber ist vielgestaltig. Sie ist nicht nur affektgeladen, sondern erwächst auch aus Existenzangst, Beschützertum und Paranoia.

Nach ihrem preisgekrönten Bestseller Meine Schwester, die Serienmörderin (der Freitag 10/2020) spielt Oyinkan Braithwaitein Das Baby ist meins mit unseren Klischeevorstellungen von Mutterschaft. In einem heruntergekommenen Bungalow in Lagos leben zwei Frauen, die sich ein Baby streitig machen. Eine Konstellation, die nach einem salomonischen Urteil verlangt. Welcher der beiden Frauen soll das Kind zugesprochen werden, Aunty Bidemi oder der jungen Esohe? Das Urteil fällen soll Bambi, Neffe der einen Frau und Ex-Geliebter der anderen. Bambi aber ist weniger unschuldig, als es der Name verheißt. Der Endzwanziger wurde soeben von seiner Freundin vor die Tür gesetzt, weil er sich lieber den Zufällen der Biologie unterwirft, Monogamie ist nicht sein Ding. Denn diese „verstieß gegen die Naturgesetze. Und wer war ich, der Natur zu widersprechen?“

Bambi sieht sich nun mit einer Schiedsrichterrolle konfrontiert, die seine schlichte Weltsicht gewaltig auf die Probe stellt. Zum einen ist die Frage der Abstammung eines Kindes zu klären. Sowohl Vaterschaft als auch Mutterschaft sind fragwürdig, wenn ein möglicher Erzeuger tot ist, ein anderer womöglich unwissend und zwei Frauen ihre Erzählungen zu Fakten adeln. Ein DNA-Test ist ausgeschlossen, denn auch in Nigeria wurde ein strikter Lockdown verhängt. Die Suche nach Wahrheit aber verblasst, sobald das Leben eines Kindes auf dem Spiel steht. Aunty Bidemi erhebt Besitzansprüche und markiert das Baby mit Stammeszeichen, scharfen Schnitten, im Gesicht. Esohe wiederum vernachlässigt das Kind, sterilisiert kein Fläschchen und zieht lieber einen Blunt unter Mangobäumen durch.

Dr. Ute Cohen ist Schriftstellerin und freie Journalistin, u. a. für Die Welt, das Interviewmagazin Galore und die Jüdische Allgemeine. Ihre Romane Satans Spielfeld (2017) und Poor Dogs (2020) erschienen im Septime Verlag. Gewalt und Machtverhältnisse sind zentral in beiden Büchern

In Bambi aber regt sich etwas Unbekanntes: Vatergefühle, Beschützerinstinkt? Wird er das Kind vor den gewaltsamen Müttern schützen? Braithwaite spielt uns einen Ball zu, den wir reflexhaft auffangen: Mütter sind die besseren Menschen. Dann aber kommt ein raffinierter Köpfer und, zack, werfen wir unsere verinnerlichten Vorurteile über den Haufen. Bambi entpuppt sich als Retter vor „ineinander verschlungene(n) Schlangen“, die das Gift des Materialismus verspritzen.

Wenn eine Frau die Beretta des verstorbenen Vaters ihrer Kinder einpackt, Plüschtiere und die zwei Töchter, dann zeugt das schon von Tatkraft und Entschlossenheit. In Veronique Ovaldés Niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln ist Gloria davon überzeugt, ihre Kinder vor dem unheilvollen Familienerbe schützen zu müssen. Die Flucht verläuft von der Côte d’Azur zurück ins elsässische Kaysersheim, den Ort ihrer Kindheit. Für Gloria selbst gab es keine Mutter, die sie hätte beschützen wollen. Der Vater suchte mit dem Kind das Weite vor einer narzisstischen Ehefrau und Schwiegermutter. Das Kind und der Mann waren lediglich Accessoires. Ovaldé beschreibt diese mutterlose Gloria als eine Frau, die selbst fast an ihrer Mutterrolle zerbricht, im Alkohol versinkt und sich dann zur Übermutter mausert. Eine Verwandlung, die den Kindern nicht minder gefährlich wird als die erlebte Vernachlässigung. Die empfundene Bedrohung durch „famiglia“, die korsische Herkunft, durchzieht den Roman wie der Nebel das elsässische Nadelgehölz. Manchmal ist sie wahr, dann wiederum eine irrlichternde Paranoia. Die Angst gewinnt in diesem Buch eine fast haptische Qualität.

Ovaldés Stärke ist es, menschliche Emotion aufgehen zu lassen in Gerüchen und Naturschauspielen: „Der Luftdruck sank, wenn sie sich näherte, wie wenn ein Gewitter über das Meer kommt.“ Das ist die Macht der Liebe; „Es ließ sie Teil der großen internationalen Gemeinschaft von Mädchen werden, die sich in Kleinganoven verlieben.“ Sich von einer Gemeinschaft zu lösen ist nicht selten ein gewaltsamer Akt, der einen Rattenschwanz an Gewalt mit sich führt. Darunter zu leiden haben meist die schwächsten Glieder im Gefüge. Auch Glorias Kinder werden diese Spirale der Gewalt, die nicht selten in Einsamkeit mündet, zu spüren bekommen.

Dass Gewalt nicht nur weiblich – das allein klingt schon befremdlich! – ist, zeigt sich in Peter Terrins Roman Blanko. Terrins Helikoptermutter heißt Viktor. Bei einem brutalen Überfall verliert Viktor seine Frau und aus Angst, auch noch seinen Sohn Igor zu verlieren, schärfen sich Viktors Sensorien für Gefahr in einer Art selbstläufigem Prozess. Der Vater verdichtet den „Safe Space“, in dem er seinen geliebten Sohn wähnen möchte, zu einem Gefängnis, ähnlich klaustrophob gerät das wie in Peter Terrins Der Wachmann (der Freitag 15/2018).

Angst ist selten eine gute Beraterin, gepaart mit Hysterie und Paranoia ist sie geradezu fatal. Als Zellwissenschaftler befasst sich Viktor mit den Grundbestandteilen des Lebens. „Und dieses Leben gegen Angriffe von außen zu schützen, ist das keine bedeutende Aufgabe?“, fragt er sich. A priori ja, ist man geneigt zu antworten. Doch was passiert, wenn jemand „eine Glasglocke über das Schlafzimmer gestülpt“ hat oder über die Stadt? Was geschieht, wenn sich der Helikoptervater im Homeoffice den Allmachtfantasien eines ewigen Beschützers hingibt?

Der Tod ereignet sich nicht immer plötzlich, sondern macht sich oftmals bemerkbar in einem langen, schmerzvollen Siechtum. Erwachsen kann er aus einer diffusen Langeweile, aber auch „das völlige geistige Blanko“ ist sein Ursprung. Terrin gelingt es, den Kipppunkt, an dem Liebe in Gewalt umschlägt, zu verbergen. Der väterliche Schutz schwillt an zu einem undurchdringlichen Wall, hinter dem ganz einsam ein Kind kauert: „So sieht ein Mörder sein Opfer, schoss es Viktor durch den Kopf.“

Gewalt ist nicht immer sichtbar und wenn sie sich offenbart, ist es oftmals schon zu spät. Braithwaite, Ovaldé und Terrin lesen ihre Fährte und brechen ihr das Genick, wenn es die Not gebietet.

Info

Das Baby ist meins Oyinkan Braithwaite Yasemin Dinçer (Übers.), Blumenbar 2021, 128 S., 15 €

Niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln Veronique Ovaldé Sina de Malafosse (Übers.), Frankfurter Verlagsanstalt 2021, 224 S., 22 €

Blanko Peter Terrin Rainer Kersten (Übers.), Liebeskind 2021, 208 S., 20 €

Die besten Blätter für den Herbst

Lesen Sie den Freitag und den neuen Roman "Eigentum" von Wolf Haas

Geschrieben von

Ute Cohen

"Intelligenz lähmt,schwächt,hindert?:Ihr werd't Euch wundern!:Scharf wie'n Terrier macht se!!"Arno Schmidt

Ute Cohen

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