Lustig ging es zu im Sommer, als eine Galerie im Wedding die Werke des Wiener Aktionskünstlers Otto Muehl präsentierte. Die Jugend scharte sich in den Ausstellungsräumen des Souterrains um ein Video, das den schalkhaft wirkenden Maler mit zwei Kumpaninnen beim Actionpainting zeigte. Kaum jemand wusste um die kriminelle Vergangenheit des inzwischen verstorbenen Österreichers, der wegen Kindesmissbrauchs und Vergewaltigung zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war. Kein Hinweis auf der Website, kein Aushang klärte über die auf dem Friedrichshof im Burgenland begangenen Taten auf. Um so kurioser wirkte im Erdgeschoss die Ausstellung einer Künstlerin, die patriarchale und religiöse Gewalt ins Visier nimmt. Während Museen eine kritische Distanz sch
schaffen zu Werken zweifelhafter Provenienz, setzt man hier auf die Verführungskraft des Marktes und den unmündigen Besucher.Diese Nachlässigkeit ist symptomatisch für das Kurzzeitgedächtnis und den Opportunismus des Kunstmarktes. Taten verpuffen, Opfer werden für Preissteigerungen instrumentalisiert. Der jüngste Run auf Otto-Muehl-Werke und der signifikante Wertzuwachs sind ein Indiz dafür.Insofern unterscheidet sich der Kunstmarkt kaum von der Modebranche, die um des schnöden Mammons willen Jagd noch auf das allerletzte Tabu macht. Avantgarde ist in dieser Hinsicht vor allem die Modemarke Balenciaga, die vor lauter Street Credibility Ästhetik und Moral in den Altkleidercontainer verfrachtet. Dass sich Design von der Straße inspiriert, ist so neu nicht. Vivienne Westwood und auch Alexander McQueen haben Punk salonfähig gemacht. Totenköpfe prunken auf Seidenschals und hängen an güldenen Kettchen. Balenciaga aber saugt die Kraft der Straße vampiresk aus und spuckt sie zynisch wieder aus.Balenciaga am Abgrund zur PädophilieIn der für das Frühjahr geplanten Kampagne treibt das Label die Ausbeutung von Subkulturen nicht nur auf die Spitze, sondern an den Abgrund der Pädophilie heran. Auf dem ersten Foto der Bildreihe sind Kinder mit BDSM-Teddybär-Taschen abgelichtet, auf einem zweiten Bild findet sich der Ausdruck eines Urteils des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten zu Pädophilie. Auf einem weiteren Bild erkennt man in einem Stapel Bücher den Bildband des Künstlers Michael Borremans, dessen Fire from the Sun-Serie Bilder von blutverschmierten kastrierten Kleinkindern auf einem Set mit abgetrennten Gliedmaßen zeigt.Inzwischen wurde die Kampagne nach einem heftigen Aufschrei in den sozialen Medien zurückgezogen. Verantwortlichkeiten wurden hin- und hergeschoben, die Suche nach einem Sündenbock lief auf Hochtouren und der Ablasshandel ist in vollem Gange. Der übliche anwaltlich empfohlene Canossagang samt scharfer Verurteilung von Kindesmissbrauch wurde absolviert und Spenden für Opferorganisationen wurden angekündigt. Vorsorglich wurde noch ein Warnschuss vor den Bug allzu vorwitziger Kritiker abgegeben, die womöglich ein Konzept in dem gänzlich zufällig, durch menschliches Versagen zustande gekommenen Kampagnenmalheur erkennen wollen. Flankenschutz bekommt das Label von der New York Times, die hinter dem Balenciaga-Skandal QAnon vermuten.So wird wieder einmal, wie schon in den Siebzigerjahren, das Thema Pädophilie für einen politischen Zweck eingespannt und die übliche Täter-Opfer-Umkehr praktiziert. Im Spiegel verkündet der Kampagnenfotograf Gabriele Galimberti: „Ich fotografiere, was ich vorfinde“, und sieht sich als „Opfer des Shitstorms“. Diese Verkennung der eigenen Verantwortlichkeit ist wenig glaubwürdig, da de facto jeder einzelne am Set Beteiligte Widerspruch gegen die degoutanten Szenen einlegen hätte können. Man muss selbstverständlich die Reife haben, einem gottgleich verehrten Artdirector zu widersprechen und den Mut aufbringen, aus dem Ruder gelaufene Versuchsanordnungen wieder einzuhegen.ZfPS-Werkschau auf Gutshof von Otto MuehlEin passables Korrektiv könnten in diesen verfahrenen Situationen Organisationen wie das „Zentrum für Politische Schönheit“ sein, die ein Scharnier zwischen Kunst und Politik darstellen. Philipp Ruch, der Gründer des ZfPS, beansprucht „radikalste politische Kunst“ zu betreiben und betrachtet Humanismus ganz pragmatisch als „Aushandlungssache“. Mit Politkunstknallern wie einem fingierten AfD-Flyer-Service weckte Ruch die Hoffnung, dass man den Kampf um Menschenrechte „mit Fiktion und Phantasie“, so sein Anliegen, gewinnen kann.Deshalb ist es um so irritierender, dass Ruch nun mit seinem Projekt, eine Werkschau des ZfPS auf dem Gutshof des eingangs erwähnten Wiener Aktionisten Otto Muehl zu veranstalten, in Verruf geraten ist. Erst die Konfrontation durch Mitglieder des Opfervereins „Mathilda“ und der Austritt einer Mitarbeiterin aus dem ZfPS bewogen Ruch dazu, einen Strich unter die geplante Werkschau zu ziehen. Dass Ruch preisgibt, das Angebot sei allzu lukrativ gewesen und nicht um das Werk Muehls gewusst zu haben, macht ihn a priori um keinen Deut besser als die anderen kapitalistischen Tabukratzer. Es sei denn – der Wunsch ist Vater des Gedankens! – Ruch persifliert die Gier und Ahnungslosigkeit von Kunst- und Modekonsumenten in einem ultimativen, wahrhaft humanistischen Akt.