Als Leonor Fini kurz nach dem Zweiten Weltkrieg das Teatro Farnese in Parma besuchte, war es fast vollständig durch Bomben zerstört. Die Statuen waren von den oberen Rängen herabgestürzt, über die Sitzreihen verstreut lagen marmorne Köpfe und Glieder. Das Spektakel dieses morbiden Publikums übte eine poetische Faszination auf die Künstlerin aus, das surreale Bild hätte direkt der Traumwelt Finis entsprungen sein können: Symbol einer aus den Fugen geratenen Welt, Schauplatz der Fantasie, Szenerie der ewigen Neuerfindung der Kunst.
Dem Schweizer Verlag Scheidegger & Spiess ist es zu verdanken, dass zum 25. Todestag Leonor Finis der zweibändige Catalogue raisonné zu den Ölgemälden der gemeinhin dem Surrealismus zugeordneten Künstlerin erscheint. Auf 648 Seiten finden sich in diesem Werkverzeichnis 1.082 Farbbilder und 339 Schwarz-Weiß-Illustrationen. Es ist, was man gemeinhin eine Hommage nennen würde, eine Huldigung, wie sie noch immer überwiegend Männern zuteil wird. Der Künstlerin hätte dieser Anklang an Unterwerfung und Zeremonien vermutlich gefallen; die Inszenierung, das kunstvolle Spektakel und Geschichten von hoher Dramatik waren ihre Welt. Richard Overstreet, Fotograf und Gründer des Leonor-Fini-Archivs in Paris, Neil Zukerman von der New Yorker CFM Gallery sowie der Biograf Peter Webb erweisen Fini eine beispielhafte Reverenz. Unverhohlene Bewunderung klingt durch in den Essays und Erinnerungen. Man mag bemäkeln, dass außer Leonor Fini keine weibliche Stimme zu Wort kommt in diesem Band, der fremde Blick ein wenig fehlt, der diese Künstlerin, die sich von nichts und niemandem dominieren ließ, dem rein männlichen Gefüge entzöge. Doch erweisen sich diese Männer als formidable Vasallen, indem sie einen Fundus an biografischem Wissen und Anekdoten bereitstellen, der Leonor Finis Werk in einem vielfarbigeren Licht erscheinen lässt.
Erst in jüngster Zeit befassten sich Kunsthistoriker und Kuratoren wieder mit der Künstlerin, die lange vor allem als exzentrische Bohèmienne galt. Wie viele andere Künstlerinnen ereilte auch sie das Schicksal, eher als Annex von Männern wie Giorgio de Chirico, Max Ernst und Georges Bataille genannt zu werden, nicht jedoch als eine vom männlichen Normenkodex unabhängige Frau anerkannt zu sein. Erst im vergangenen Jahr wurde Fini durch die Ausstellung Fantastische Frauen in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt hierzulande einem breiteren Publikum bekannt. Zweifellos ein hohes Verdienst, dass in dieser Schau Frauen als Sphinxe und Raubtiere in ihrer schöpferischen Kraft gezeigt wurden. Finis Kunst begnügte sich nicht mit der Umkehrung des männlichen Blicks in eine Transformation weiblichen Begehrens, ihr Sinnen und Sehnen strebte über die Umkehrung der Machtverhältnisse hinaus hin zu deren Aufhebung im Spiel. Nicht ohne Belustigung beobachtete sie in Paris André Breton, wie er sich eitel im Schwarm seiner Bewunderer bewegte. Die Devise der Surrealisten, künstlerisch Alternativen zu Patriarchat und Imperialismus zu erschaffen, genügte ihr allenfalls als Impuls, nicht jedoch als Richtlinie.
Begnadete Selbstdarstellerin
Fini verweigerte sich jeglicher Vereinnahmung und verwehrte sich der Unterjochung durch künstlerische oder politische Manifeste. Das mag an ihrer Herkunft liegen: Die Mutter, eine Bürgerstochter aus Triest, war vor dem machistischen Ehemann, dem sie nach Buenos Aires gefolgt war, mit dem Kind zurück nach Italien geflohen. Das Mädchen wurde nicht selten, um des Vaters Entführungsversuchen zu entgehen, als Junge verkleidet. Leonor Fini wuchs im Umfeld Rilkes und Joyce’ auf, war früh schon kulturell erweckt und ganz „unmädchenhaft“ rebellisch, was ihr prompt den Schulverweis und „Homeschooling“ bescherte – mit ausreichend Freigang freilich. So sehr sie das Flanieren auf den Boulevards Triests genoss, ihre Faszination galt dem Leichenschauhaus. Seltsam entrückte Gestalten fand sie dort vor, hingegossen in einer ungekannten Weltfremdheit, die es zu ergründen galt. Wie es in Rilkes Morgue heißt: „Die Augen haben hinter ihren Lidern / sich umgewandt und schauen jetzt hinein.“
In dieser Zeit entdeckte sie wohl auch, dass es eine Verwandlung gab, die kein Amüsement einer gelangweilten Bourgeoisie, kein Eskapismus in Zeiten des Krieges war. Leonor, eine begnadete Selbstdarstellerin und Meisterin der Performance, begnügte sich jedoch nicht mit dem Karnevalesken und dem gelegentlichen Hineinschlüpfen in eine andere Rolle. So facettenreich ihre Maskeraden waren, so fantasievoll ihre Verkleidung, sie beabsichtigte nicht weniger als die Auflösung all dieser Identitäten. Sich hineinfühlen in einen Stein, Moos, Flechten, eine Erle, und dann sterben, um sich selbst wiederauferstehen zu lassen. Phönix ist ein wiederkehrendes Motiv in ihren Bildern. Fini, die als junges Mädchen aufgrund einer Erkrankung Augenbandagen tragen musste, imaginierte sich Welten, die von Wandlung und Transformation zeugten. Hatte sie damals ihre Vision Rouge? 1984 malte sie dieses kleine Mädchen im weißen Gewand, das ein Gesicht im roten Feuerball aufscheinen sieht. Wer nicht sieht, erschafft sich einen inneren Kosmos, der bevölkert ist von Wesen der Kindheit, Monstern, Zentauren und immer auch der Katze, dem Totemtier. Eine Katzen-Identität erschuf sich auch Fini: la Féline. Baudelaires Katzen schleichen sich in all ihre Bilder: „Sie gleichen Statuen, wenn sie sinnend kauern / Den großen Sphinxen in der Wüste Schauern / Die ewig dämmern an des Traumes Rand“. Finis Katzen sind jedoch nicht nur erotisch oder verführerisch; sie brechen das Klischee. So erscheinen die grotesken Katzenköpfe und die schaurige Vision des flämischen Barockmalers Frans Snyders in ihrem Gemälde La Cérémonie auf.
Durch ein Guckloch
Die Grenzen zwischen dem unwirklichen Universum und der Wirklichkeit waren für Fini fließend. Im korsischen Nonza aber, wo sie zahlreiche Sommer verbrachte, erschuf sie sich ihr Utopia. Es waren die besten Voraussetzungen: Zu Zeiten der Französischen Revolution war das korsische Kloster ein Zufluchtsort für Mönche und Piraten. Auch hier ein Ort der Verwandlung: Mönche leiteten nahende Boote mit Laternen in die Irre und ließen sie an Felsen zerschellen. Piraten kaperten das Kloster, die Mönche aber verweilten und wurden selbst zu Piraten. Eine unheilige Allianz, eine höllische Metamorphose. Dieses Kloster war ein „enthrallment“, ein verzauberter Ort für Fini, die gebannt war von seiner widerspenstigen Aura. Dort lebte und arbeitete sie mit ihren Männern, dem Maler Stanislao Lepri und dem Dichter Constantin Jelenski.
So anregend Finis Lebensweise auch gewesen sein mag, man täte ihr Unrecht, das Leben über das Werk zu erheben. Auch ihre Illustrationen für bibliophile Buchausgaben und Modeschöpfer, darunter Rochas und Schiaparelli, höher zu gewichten als das malerische Werk (Zitat Overstreet: „some of her very best work“) hieße Fini in das Dekorum des Weiblichen zu verbannen. Der Catalogue Raisonné aber beweist, dass Fini eine elegante Grenzüberschreiterin war, dass sie sich auch malerisch zwischen Plakativem und subtiler Bildfindung bewegte. Die milchigen, wie durch einen Filter beobachteten Figuren erinnern an den belgischen Symbolisten Fernand Khnopff, in den 1960ern wechselt sie in Heliodora, einem Selbstporträt mit zwei Blumenbouquets (die Liebhaber als Ornament?) zu einer psychedelischen Farbgebung, wie man sie bei der amerikanischen Malerin Dorothy Iannone findet.
Lust, auch körperliche, wandelt sich. In Stryges amaouri (1947) erscheint der Liebhaber efeuumrankt. Der immergrüne Tod wird belauert von Begierde. Das Bild zeugt von einer ungebändigten Lust am Voyeurismus. Fini gibt die „Belle“ und „Bête“ zugleich. Auch in der Femme en armure (1938) ist sie nicht einfach Frau in einer Rüstung, gewappnet für den Kampf, sondern ein Wesen der Nacht, geneigt in eine andere Welt, die Löwenmähne medusenhaft. Sotto voce (1978) zeigt eine Frau, hingegeben an die Einflüsterungen eines Engels, der so himmelsgleich nicht sein kann, wenn dieser Blick daraus entsteht.
Es ist Finis Une grande curiosité (1983), die ansteckend wirkt: Durch ein Guckloch lugt sie hinein in einen anderen Raum, in dem der Traum die Wirklichkeit pariert. Für Elsa Schiaparellis Parfum „Shocking“ mit blumig-animalischer Sillage erschuf sie einen Flakon mit einem Frauentorso unter einer Glasglocke. Jean-Paul Gaultier sollte sich daran inspirieren bis hin zur Namensgebung „Scandal“. Und wenn schon! Fini würde dazu sagen: „Famous people impress me very little“.
Info
Leonor Fini. Catalogue Raisonné of the Oil Paintings Richard Overstreet, Neil Zukerman (Hg.), Scheidegger & Spiess 2021, 2 Bände, 648 S., 350 €
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