Der Wind scheucht dunkle Wolken vor sich her. Kaum ein Lichtstrahl durchdringt die Pariser Luft. Am Himmel nur die grauen Zinkdächer, auf den Straßen hektische, zur nächsten Metrostation eilende Menschen, geduckt unter Schirmen, die Gesichter mürrisch. Unter den Arkaden des „Viaduc des Arts“ findet man Unterschlupf. Die ursprüngliche Eisenbahntrasse wurde zu einer zauberhaft bepflanzten Promenade umgestaltet, die von der Bastille bis zum Rathaus des 12. Arrondissements führt. In ihren Torbögen aus Backstein versammeln sich seit Mitte der 90er Jahre die feinsten Kunsthandwerker der Hauptstadt: Parfumeure, Textildesigner, Silberschmiede, Kunsttischler, Täschner und der edelste Schirmmacher Frankreichs, Michel Heurtault.
Das französische Kino hat seit jeher dem Schirm einen Ehrenplatz eingeräumt. So wie in Les Parapluies de Cherbourg, dem Musical-Film mit Catherine Deneuve aus dem Jahre 1964.
Zehn Jahre lang war er verschwunden, mein eigensinniger und charmanter Freund und Nachbar, der an der Autorin einmal sogar atemberaubende Korsette des achtzehnten Jahrhunderts ausprobierte, während Hubert de Givenchy und sein Mannequin Bettina in die kleine Boutique in der Rue Faidherbe stolzierten und um Rat zu einer mit Federn bestickten Robe baten.
Niemals Plastik
Et voilà, 85 Avenue Daumesnil, „Parasolerie Heurtault“. Im Schaufenster wölben sich smaragdene Schirme vor roséfarbenen Wänden, reihen sich noble Karos an zierliche Pastellschirmchen. In einer Vitrine thronen Spitzenschirme aus einer Epoche, in der Made in China noch in weiter Ferne lag. Michel öffnet die Tür, umarmt und küsst viermal links und rechts auf die Wange, schließlich kommt er aus dem Süden. „Bonjour, Ütt“, der germanische Vorname ist ein wahres Obstakel für die Gallier: „Mon Dieu, hast du immer noch den Trenchcoat, den wir zusammen erstanden haben?“, ruft er, schnappt seine Schlüssel, ruft einer unsichtbaren Gehilfin einen Gruß zu und bugsiert mich ins Arrosoir, ein neben dem Atelier gelegenes Bistrot.
Die Wirtin begrüßt ihn mit Handschlag, empfiehlt das Pot-au-feu, einen Rindfleisch-Gemüse-Eintopf. Michel schwärmt, schwelgt in den letzten Jahren, erzählt, wie es ihm ergangen ist. Die Kostümbildnerei habe er an den Nagel gehängt: „Die Leute legten immer weniger Wert auf Qualität. Kein Sinn für Stoffe. Wer macht schon noch einen Unterschied zwischen hochwertigen Textilien und Schund?“, fragt er, während er den Eintopf löffelt und dem Kellner ein Kompliment zuwirft. Selbst die großen Marken würden auf Wertigkeit verzichten, um höhere Gewinne zu machen. Jahrelang habe er die Korsette für Dior gefertigt. Irgendwann sei er der Chose überdrüssig geworden und habe beschlossen, das zu machen, was ihn schon als Kind faszinierte: Schirme. „Mit 43 habe ich mein Kinderuniversum erschaffen“, sagt er, „meine Welt in einer Welt, die mir nicht gefiel.“ Er zeigt auf die Straße, auf all die dunklen Gestalten mit ihren billigen Schirmen, austauschbar, produziert, um sogleich im Müll zu landen. „Bei mir gibt es kein Plastik, du wirst nicht ein einziges widerliches Stück Plastik an meinen Schirmen finden. Ich unterstütze doch nicht diese Öllobby, die uns das Geld aus der Tasche zieht und den Konsum immer noch mehr anheizt.“ Nur ausnahmsweise habe er mal Kunststoff verwendet, als er für eine Ausstellung in Tokio einen Schirm aus Plexiglas und Vermeil, vergoldetem Silber und Edelmetallstickereien kreiert habe.

Foto: Franck Fife/AFP/Getty Images
Heurtault zahlt und entführt in sein Reich, in die „Maison Heurtault“. Im Atelier öffnet er einen parasol du soir, einen Abendschirm, der, ganz mit schimmerndem Damast ausgekleidet, manche Soiree von tout Paris aufscheinen lässt. „Ha, denkst du“, ruft Michel aus, „die meisten meiner Kunden sind Schweizer, Deutsche, Japaner, Amerikaner.“ Überhaupt gebe es eine Menge Vorurteile gegenüber Schirmen. Erfunden worden seien sie zum Sonnenschutz in Asien. Und von wegen englische Ladys, die ihre vornehme Blässe zu schützen versuchten. Hier in Frankreich habe die parasolerie ihren Siegeszug angetreten. Mir kommen die Sonnenschirme bei Renoir und Caillebotte in den Sinn, Meistern des Impressionismus, von denen sich auch Heurtault inspirieren lässt. Herren auf Pariser Prachtboulevards, elegant behütet und beschirmt. Er nimmt einen Herrenschirm von einer Etagere und öffnet ihn mit einem sonoren Klicken. Er legt das Ohr an den Schirm, öffnet ihn von Neuem und streicht über den Griff, der mit weißem Galuchat, Rochenleder, bezogen ist. Eine Spezialanfertigung für Rolls-Royce, mit der Maßgabe, Interieur des Wagens und Schirm perfekt zu koordinieren. Man stelle sich mal vor, im Schirmfach des Automobils habe ein chinesisches Billigprodukt gelegen! Fassungslos schüttelt Michel den Kopf. Auf der Werkbank liegt ein orangefarbener Karton. Zur Reparatur habe man ihm den Schirm gebracht. Michel Heurtault hat als Auftragsartist Vitrinen mit Schirmen aus Seidentüchern dekoriert, aber niemals würde er trotz Anfragen Schirme für Luxusgiganten herstellen. Der Tarif sei so niedrig, dass er davon nicht einmal seine Unkosten decken könne. Er verwendet nur edelste Materialien: einen Knauf aus Kalbsleder, einen schmalen Griff aus Messing.
Deutsche Ersatzteile
Das Schirmgewebe wird auf Messen aufgespürt, in kleinen Webereien entdeckt und anschließend in Italien imprägniert. Das Leinen kommt aus Belgien, die Seide aus Como. Die Griffe werden von dem einzigen verbliebenen französischen Edelbugholz-Hersteller in der Auvergne fabriziert. Federn bezieht er aus Deutschland, wie überhaupt ein gewisser Bestand an Ersatzteilen in deutschen Lagern schlummere. Deutsche Unternehmer seien bis zum Zweiten Weltkrieg die größten Hersteller von Schirmersatzteilen in Europa gewesen. Heute ist die Innung der Schirmmacher geschlossen, der Lehrberuf existiert nicht mehr. Ein Netzwerk und die Kooperation mit anderen Kunsthandwerkern sind neben der Technik entscheidend für Metiers, die im Aussterben begriffen sind. Michel zeigt mir ein besonders aufwendig gearbeitetes Exemplar. Allein für den Stock braucht man eine spezielle Federeinschneidemaschine. Mit einem Prellstiftdraht werden die Federn eingesetzt. Die Stoffe müssen getafelt, geschnitten, gesäumt werden, die Stangen in Schieber und Krone eingebunden. Ecken müssen genäht, Spitzen aufgesteckt, Kronrosetten, Platinen und Zwingen präpariert werden. Selbstverständlich sind auch die Stangen in Stoff gekleidet, das Schirmdach sogar doppelt genäht, eine passgenaue Millimeterarbeit in leuchtendem Orange. Angeeignet und vervollkommnet hat sich der Schirmmacher die Technik durch historische Recherchen und manisches Experimentieren.
Feste Arbeitszeiten? Zeit zähle nicht, wenn man für sich und seine Freiheit arbeite. „Wenn ich reich werden wollte, dann würde ich eine Fabrik gründen“, sagt Michel Heurtault. „Dicke Autos, ein fettes Portefeuille, Schneegolfen in Megève. Man hat mir all das angeboten! Ich habe das alles gesehen, erlebt! Einzig Leidenschaft, Nachhaltigkeit und der Respekt für meine Kunden sind mir wichtig.“ Michel Heurtault trägt den Titel Maître d’art und gehört damit einer handverlesenen Gruppe an, die französische Traditionen hochhält und an die nächste Generation vermittelt. Der Staat zahlt ihnen den Lohn eines Auszubildenden. Auf dem hart umkämpften Markt der Schirme, auf dem 98 Prozent in Asien produziert und mit verschiedenen Labeln bedruckt würden, muss der Maître sich jedoch selbst durchkämpfen.
Die „Parasolerie Heurtault“ besteht erst seit knapp zehn Jahren. In einem auf Tradition und alte Eliten bauenden Land wie Frankreich komme es einem Kampf gegen Windmühlen gleich, wenn man festgefahrene Strukturen aufbrechen wolle. Michel öffnet eine lange Schublade, in der sich Preziosen aneinanderreihen: historische Schirme, die er auf Auktionen ergattert hat, aber auch Dachbodenfunde von Erben, alten Sammlern, die ihre Kollektion in wertschätzende Hände geben wollen. Straußenfedern säumen eine ombrelle der Marquise de Pompadour, ein aus Elfenbein geschnitzter Knauf kontrastiert mit einem goldgefassten Amethyst.
Über einem Griff aus ziseliertem Nashorn-Horn wölbt sich Seiden-Musselin von einer Qualität, wie sie heute nicht mehr hergestellt werden kann. Aus dem Nebenraum, in dem sich Stick- und Schneidemaschinen aus vergangenen Jahrhunderten verbergen, holt er einen Sonnenschirm mit goldenen Fransen und cremefarbenen Blüten auf royalblauem Grund, eine Sonderanfertigung für die Fernsehserie Versailles über den jungen König Ludwig XIV., so glanzvoll wie aufwendig hergestellt.
Wird es für Michel Heurtault eine Zeit nach den Schirmen geben?, frage ich. „Non!“, ruft er, wie aus der Pistole geschossen. „Ich habe mir die Freiheit genommen, meinen Traum zu verwirklichen.“
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