„Ein Lob auf die Form!“

Interview Arno Morenz stellt die Avantgarde aus. Ist die Kunst von heute zu steril geworden?
Ausgabe 36/2021

Eine neue Generation in der Direktion des Centre Pompidou zeigt jetzt in Paris vermehrt Avantgardisten der Nachkriegszeit. In Berlin kann man jetzt in der EAM Collection anlässlich der Art Week die Ausstellung Seven AvantGardes, Seven Utopias sehen, die sich auf Isidore Isou, Asger Jorn und einige weitere mit ihnen in Verbindung stehende europäische Künstler bezieht.

Isidore Isou und Maurice Lemaître haben fast 20 Jahre vor Marcuse ohne viel Resonanz bis zu ihrem Tode die Revolution der Jugend propagiert. Hier werden sie in Gesellschaft ihres situationistischen Todfeindes Guy Debord und dessen marxistischen Kumpans und Financiers, des dänischen Malers Asger Jorn, ausgestellt. Anlass ist die Übertragung der Sammlung Petits Papiers des kürzlich verstorbenen Bibliophilen Paul Destribats auf die Bibliothek Kandinsky.

der Freitag: Herr Morenz, kürzlich erwarben Sie das Gemälde „Dichter und Denker“ von 1962, das Werner Haftmann, den Kunsthistoriker und Mitgründer der documenta, zeigt. Die Wendung wird seit dem 19. Jahrhundert auf die Deutschen bezogen. Wie setzt Asger Jorn diesen Zwillingsgedanken um?

Arno Morenz: Diese Beschreibung der Deutschen wurde ja bereits von so einigen Bühnenkünstlern persifliert. So sprach Karl Kraus etwa vom Deutschland der Richter und Henker. Womit er ja nicht ganz unrecht hatte! Noch heute haben wir einen Hang, das Strafrecht immer mehr zu verschärfen. Das Bild kam auf den Markt, als gerade im Berliner Historischen Museum die Ausstellung über die Gründung der documenta eröffnet wurde. Jorn zeigt Werner Haftmann ganz offensichtlich nicht sehr ansprechend, eher als Monster mit einem dem Hauer des Wildschweins ähnlichen Gewaff. Mit kräftigen Pinselstrichen verwischt er Haftmanns Identität. In grauen Schlieren zerfließt das Gesicht. Verborgen im Mund – oder soll man sagen „Maul“? – gelbe und rote Akzente. Farben des Höllisch-Monströsen?

Erst vor Kurzem kam Haftmanns NS-Vergangenheit ans Tageslicht. Angeblich wurde Haftmann in Italien sogar als Kriegsverbrecher gesucht. Wie erklären Sie sich, dass sich Jorn, ein dezidiert linker Künstler, derart hat blenden lassen?

Warum sollte ein so belesener und gebildeter Mann wie Asger Jorn sich nicht 1962 gefragt haben, was ein 1912 geborener Kunstmanager während des Krieges gemacht hat? Das ist jetzt wirklich ein wenig gewagt, aber ich bin nicht überzeugt, dass Jorn sich von Haftmann hat blenden lassen, es war halt noch ein wenig früh für eine Voll-Entschleierung, die natürlich in den späten sechziger Jahren gerade von solchen Bewegungen nachdrücklich betrieben wurde, die den Situationisten nahe waren. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Asger Jorn ahnte, wem er auf der Rückseite des wahrscheinlichen Porträts Haftmanns das Bild widmete. 1962 hatte Asger Jorn bereits fünf freundschaftliche Jahre mit dem Ex-Lettristen und Situationisten-Gründer Guy Debord kooperiert. Beide waren Kommunisten und sicher nicht an einer Deckung ehemaliger NS-Gestalten interessiert. Aber 1962 war man ja überall umgeben von „Belasteten“. Als Wirtschaftsstudent hörte ich in Köln um diese Zeit bei Theodor Beste. Kaum jemanden im überfüllten Hörsaal kümmerte es, dass Beste zu den Professoren gehörte, die 1933 ihr Bekenntnis zu Adolf Hitler unterschrieben hatten.

Zur Person

Dr. Arno Morenz gründete 1968 mit seiner Frau Elke die auf Nachkriegsavantgarden spezialisierte Sammlung EAM Collection, mit einem Schwerpunkt auf französische Künstler*innen. Morenz war ursprünglich Journalist und gilt als Pionier des Venture Capital in Deutschland.

„Allein die Fantasie kann das Denken zu etwas Lebendigem machen“, sagte Jorn. Das Absurde, der Zufall, Widernisse ... daraus schöpften die Avantgarden. Sind unser Denken und die Kunst zu steril geworden?

Ja, Fantasie hatte Asger Jorn reichlich. In unserer Sammlung beschäftigen wir uns hauptsächlich mit dem Jorn, der gesellschaftspolitisch aktiv war, also im Wesentlichen mit seiner situationistischen Zeit von 1956 bis 1962. Aber vorher hatte es ja auch den Jorn der skandinavischen Mystik, den Jorn der Artistes Libres und der COBRA, einen manchmal surrealistischen und manchmal abstrakten Jorn gegeben. Spontaneität war ihm sehr wichtig. Eines der gesuchtesten Kunstbücher ist Fin de Copenhague, das er mit Unterstützung Guy Debords in 24 Stunden nach ihrer gemeinsamen Ankunft in Kopenhagen erstellte. Aus einem Stoß gestohlener Zeitungen und Zeitschriften lösten sie Seiten und schufen mittels Ätzungen auf ihnen abstrakte und fantastische Formen in knalligen Farben und auch Texte, die zu den ersten Verhöhnungen der Konsumgesellschaft gehören dürften. Fin de Copenhague bricht mit allen Traditionen der Druckkunst und des Designs, wird bahnbrechend für die von Debord und seinem lettristischen Mitstreiter Gil Wolman entwickelten Konzepte des „Détournement“, das heißt, der Zweckentfremdung von etwas Vorhandenem und Überführung in etwas Neues. Sowohl Objekte wie Texte können einen völlig neuen Sinn gewinnen. Man kann diese Künstler durchaus als eine Vorhut der Postmoderne begreifen. Détournement und Dekonstruktion sind rebellische Geschwister.

Chaos und Formgebung waren Haupttopoi der Avantgarden. Auch Jorn schrieb 1958 ein Plädoyer für die Form („Pour la forme“). Weichen Form und Fassung dem Gedanken der Fluidität? Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Natürlich ist es nötig, Verkrustungen aufzubrechen. Dazu gehört auch, dass man Konturen auflöst und Dinge, Gedanken, Konzepte amalgamiert, um Neues daraus entstehen zu lassen. Sich dann aber mit dem Zerfließen und dem Auseinanderdriften zufrieden zu geben, hieße, sich mit einem zäh zerfließenden Brei und damit Stagnation zufrieden zu geben. Den revolutionären Impetus sollte man nie und nimmer verlieren. Unterstützend dabei ist Disziplin. Ich weiß, das Wort ist aus der Mode gekommen, verpönt sogar. Aber formlose, aus der Form geratene Revolutionäre gibt es nun mal nicht! Also ja, ein Lob auf die Form!

Auffällig viele Künstler der Nachkriegsavantgarde in Ihrer Sammlung wurden wahnsinnig oder begingen Suizid. Es wurde sogar spekuliert, Guy Debord oder Isidore Isou seien an einer Verschwörung beteiligt gewesen im Zusammenhang mit der Ermordung des Mäzens und Verlegers Lebovici. Gab es eine besondere Faszination für den Tod?

Wer ist nicht fasziniert vom Tod und wer fürchtet ihn nicht? Im Falle Isidore Isous war eine Erkrankung des Kleinhirns verantwortlich für den unfreiwilligen Tod. Debord hatte eine ausgeprägte Vorliebe für weißen Rum, die ihn allerdings – was Wunder! – die Leber kostete. Selbsttötung, dazu entschloss er sich. Das klingt entsetzlich, ist aber innerhalb seines Gedankensystems konsequent.

Debord hat mit seiner Idee des Spektakels vieles aus unserer Zeit vorweggenommen. Für Debord ist das Spektakel Ideologie. Lassen wir unser Leben davon unterjochen?

Auch da kann man ihm fast schon seherische Qualitäten zusprechen. Schauen Sie sich Instagram an. Viele, die sich gesellschaftskritisch gerieren, sind reine Produkte des Kapitalismus. Gesellschaftskritik wird, ehe man sich versieht, nicht nur zur beinharten Ideologie, sondern zum Wegwerfartikel oder schnöden Convenience-Produkt. Wir spielen mit als „Schlafwandler“, wie Debord sagte. Er, der „die bürgerliche Glücksvorstellung“ mit allen Mitteln zerstören wollte, hätte sich aber durchaus an die eigene Nase fassen können. Schlecht gelebt hat er nicht von seinen Gönnern! Vor Bling-Bling sind auch Berufsrevolutionäre nicht gefeit.

Adorno meinte, „man muss rechtzeitig zu lachen wissen“, damit das Lachen seine subversive und rettende Kraft entfaltet. Worüber lachen Sie?

Wissen Sie, ich lache leider immer noch viel zu selten. Lachen muss aber nicht immer subversiv sein. Manchmal tut es einfach auch ein Lachen um des Lachens willen oder ein Lachen über den Ernst des Lebens.

Die Ausstellung Seven Avant-Gardes, Seven Utopias eröffnet am 14. September in der EAM Collection

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Ute Cohen

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