Man stelle sich vor: Der Autor treibt seinen spitzen Kuli durch die Schichten der Vergangenheit, er löscht Existenzen aus, erschreibt sich neue Wesen, in denen sich die leibhaftigen nicht wiedererkennen. Welch eine Allmacht! Welch eine Bedrohung! „Einen Schriftsteller in der Familie zu haben, ist genauso, wie mit einem Mörder verwandt zu sein“, erklärt der Vater in Was nie geschah. Stammte dieser Satz nicht von Art Spiegelman, müsste der Tochter angst und bange werden. Nadja Spiegelmans Risiko hält sich jedoch in Grenzen: Der Vater, Pulitzer-Preisträger und Schöpfer der Graphic Novel Maus, förderte selbst in Interviews, Text und Bild die Geschichte seiner Familie zutage. Die Tochter schreibt sich ein in diese Tradition, mit dem Unterschied, dass sie nur den Müttern eine Stimme verleiht.
In ihrem Debüt spinnt Spiegelman einen Faden über vier Generationen: Über die eigenen Erinnerungen durchdringt sie die Leben ihrer Mutter, Françoise Mouly, Art-Direktorin des New Yorker, ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter. Was wie eine Selbstfindung beginnt, wie ein Versuch anmutet, die ambivalenten Gefühle gegenüber der Mutter zu sortieren, entwickelt sich zu einer Suche nach einer generationsübergreifenden Identität. Im Laufe ihrer Recherchen macht die Autorin einen Marker aus, der den Code des Weiblichen zu bestimmen scheint. Alle vier Frauen sind Produkt oder Objekt sexueller Gewalt. Die Großmutter Josée ist aus einer Vergewaltigung entstanden, die Mutter Françoise leidet unter dem Mangel mütterlicher Liebe und sieht sich den Übergriffen des Vaters ebenso ausgesetzt wie die Tochter Nadja. Die Geschichte der Frauen ist eine Geschichte der Gewalt und des Haderns mit der Weiblichkeit. Neu ist die intergenerationelle Sicht. Während sich die Tochter empört über die ewige Opferrolle der Frau, verweigert sich die Mutter dieser Sicht: „Diese jungen Mädchen heutzutage ... sie lassen zu, dass ihr ganzes Leben zerstört wird. Sie beschließen, dass sie die Opfer sind.“ Die Mutter fordert Pragmatismus.
Das mutet hart an, ist aber die Konsequenz des Kampfes um Selbstbestimmung. Françoise hat sich befreit aus mütterlicher Lieblosigkeit und väterlichen Übergriffen, entkam der psychischen Zerstörung und überlebte Versuche, sich selbst zu töten. Ihr Triumph über die Vergangenheit besteht in der Autogenese, in der Selbsterschaffung der Pariserin Françoise in Amerika, in einem anderen Leben. Diese Kraft steigert Spiegelman im Bild ihrer Mutter ins Unermessliche. Die Mutter tritt mit einer Urgewalt auf, reißt die Kinder im Tropenregen in den aufgewühlten brasilianischen Ozean, wuppt zwei Jobs, Haushalt, Kids und Ehemann. Das Janusgesicht zeigt sich nur manchmal, fast als scheute sich die Tochter, der Mutter einen Spiegel vorzuhalten: Françoise jähzornig, keifend, ungerecht? Sofort wird ihr die liebende, beschützende Mutter (der Originaltitel heißt: I’m supposed to protect you from all this) gegenübergestellt, in der Vergangenheit nach Rechtfertigungen für zweifelhafte Verhaltensweisen gesucht.
Stark ist diese Mutter. „Sie missachtete die meisten Gefahren. Sie tat sie als amerikanische Konstrukte ab, erfunden von jenen verhuschten Frauen, die auch ihr Gemüse wuschen.“ Als Konstrukte zeichnen sich auch die Erinnerungen ab, die Spiegelman von ihrem eigenen Leben und dem Leben der anderen aufzeichnet. Kaum glaubt man eine klar umrissene Charakterskizze vor sich zu haben, wird diese wider-gespiegelt in einem anderen Memoir. Erinnerungen sind trügerisch, zeigt uns Nadja Spiegelman. So liest sich ihr Roman wie ein Beweis der jüngsten Ergebnisse der Hirnforschung: Eine fixierte, komplette Repräsentation eines Geschehens gibt es nicht. Unsere Erinnerung ist vielmehr eine Reaktivierung von Fragmenten, die wir zu einem Mosaik zusammenfügen.
Kein Rauch, kein Feuer
Spiegelman demonstriert das anhand einer Geschichte, die Siri Hustvedt während eines Dinners zum Besten gibt. Paul Auster glaubt zusammen mit seiner Tochter einen Reiher beobachtet zu haben. Siri hingegen beendet das Gespräch mit dem Satz: „Wichtig ist nur, dass der Reiher gesehen wurde.“ Diese Einsicht wünschte man auch Nadja Spiegelman.
So schön die Meeresmetaphern sind, die das Buch durchströmen, so wenig empfindet man die Sehnsucht nach Harmonie und sanft wogendem Ewig-Weiblichen als Bereicherung. Mehr Spannung, mehr Reibung, mehr Feuer könnte neue, unerwartete Sichten auf Frauen und Mütter ermöglichen. Den Leben ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter wird Spiegelman trotz aller Akribie und Gegenüberstellung nicht auf die Schliche kommen. Es wird immer, und grübe sie auch noch so tief, konkurrierende Narrative geben. Was zählt ist: Wir wissen nicht, was genau geschehen ist. Wir kennen unsere Mütter nicht, aber wir wissen, dass sie prägend sind.
Info
Was nie geschehen ist Nadja Spiegelman Sabine Kray (Übers.), Aufbau Verlag, 394 S., 22 €
Kommentare 5
Die Geschichte, die Siri zum Besten gibt, könnte so weitergehen: „Wichtig ist nur, dass der Reiher gesehen wurde.“ Doch das war eine Täuschung. Optisch? Psychologisch?
Die Realität der Identität, die Positivität der Realität, es bleibt ein unentrinnbares Spiegelkabinett.
Mir gefällt die literarische Figur oder tatsächliche Person der Mutter Françoise Mouly. Aber ja, ich sehe auch die Problematik.
Spannnend sind die unterschiedlichen Haltungen zum Opferstatus und die intergenerationelle Sicht auf das Geschlechterverhältnis. So zitiert Spiegelman ganz unverblümt die Großmutter: „Es ist wie mit Hunden – du musst Männer wissen lassen, dass sie eine Herrin haben und dass du diese Herrin bist. Ach ja, du schmeichelst ihnen, und du bemutterst sie auch ein bisschen, aber dann faltest du sie zusammen.“
Da hat sich aber die Großmutter geirrt: es ist nicht wie bei den Hunden – die kennen keine Hündin über sich. Die Umkehrung der Rollen ist etwas ganz spezifisch Menschliches. Intellektuell imponiert mir das. Es ist jedoch der Intellekt an ein Falsches verschwendet. Herrschaft sollte nicht umverteilt werden, sondern abgeschafft.
Spiegelman beurteilt weder den Wahrheitsgehalt noch wertet sie. Die Großmutter ist Zeitzeugin im Sinne eines "Oral History"-Ansatzes. Selbstverständlich plädiert sie nicht für die Übertragung animalischer Hierarchien auf menschliche Gesellschaften. Ideologische Unvoreingenommenheit darf man Spiegelman auf jeden Fall zugute halten.
Aber ja doch. Meine Bemerkung war weder Kritik an einer glaubwürdigen Erzählung, schon gar nicht am Mangel einer pcorrecten Bewertung durch das Erzählsubjekt, noch besserwisserische Zurechtweisung der klugen Großmutter, sondern eine leicht ironische Anmerkung zur Historizität der Begründung auch von emanzipatorischen Ansprüchen.