Das ganze Malheur mit der Scham verursachte Eva, als sie Adam den berühmten Apfel anbot. Genitalscham wurde gar zur göttlichen Tugend erhoben, als Artemis den Voyeur Aktaion bestrafte. Die Göttin der Keuschheit verwandelte ihn in einen Hirsch, der von seinen eigenen Kumpanen gejagt und erlegt wurde. Von Kindesbeinen an werden wir gerügt, wenn wir „kein Blatt vor den Mund nehmen“, und lernen, die Dinge nicht beim Namen zu nennen. Statt sich zu verflüchtigen, treibt die Scham nun polymorph ihr Unwesen. So auch in Inès Bayards aufwühlendem Roman Les malheurs du bas, der im Deutschen den Titel Scham trägt. Man mag diese Verkürzung bemängeln wie auch manch hölzerne Unbeholfenheit der Übersetzung, letztlich erweist sich der
ich erweist sich der Titel jedoch als das richtige Prisma für diesen facettenreichen Roman.Marie, eine erfolgreiche Vermögensberaterin, und Laurent, ein brillanter Anwalt, verkörpern den Traum der Pariser Bourgeoisie – nur ein Kind fehlt noch in dieser perfekten Work-Life-Idylle. Ein jähes Ende nimmt der Lebenstraum des Vorzeigepaares am Tag, als Marie von ihrem Chef vergewaltigt wird. Aus Scham behält Marie das brutale Erlebnis für sich. Sie schweigt, wie es sich für brave Mädchen und Opfer geziemt. Der malträtierte Körper aber rebelliert und die seelische Verwundung entwickelt einen unheilvollen Sog. Mit Maries Schwangerschaft spitzt sich die zunehmend prekäre Situation zu. Mordfantasien gegenüber dem ungeborenen Kind und Todessehnsucht ergreifen Besitz von ihr. Je mehr sie jedoch die Kontrolle über sich verliert, desto klarer begreift sie sich selbst. Anerzogene Verhaltensmuster und endlos sich wiederholende Modelle der Weiblichkeit verlieren an Gültigkeit, sobald der Körper die Macht übernimmt. Der versehrte Körper wird zur Quelle der Selbsterkenntnis, der schmerzende Leib zum Prüfstand einer Ehe. „Der Körper der Frau ist ein Schlachtfeld“, sagte Leïla Slimani in einem Interview. Inès Bayard exploriert dieses Terrain und ist weit mehr als nur eine Adjutantin ihrer Schwester im Geiste. Sie wagt sich dahin, wo es schmerzt, wo Lust und Schmerz, Aufbau und Zerstörung ganz nah beieinanderliegen.Die Doppelläufigkeit der Psyche, bestehend aus Konstruktion und Dekonstruktion, beschreibt die Autorin in einer erbarmungslos analytischen Sprache. Bayard verschanzt sich nicht hinter der Kunst des Auslassens, sondern benennt das Furchtbare mit eisig-glühenden Worten. Sie wird damit ihrem eigenen Anspruch gerecht, Scham als Verursacherin menschlichen und speziell weiblichen Leids zu entlarven. Scham zeigt sich vielgestaltig: Marie schämt sich vor ihren Eltern, ihren Kollegen, ihrem Mann und nicht zuletzt ihrer selbst. Einher geht mit dieser Scham die Missbilligung durch die vorherrschende Moral und eine reflexhaft verurteilende Öffentlichkeit. Verschämt sind auch Eltern und Freunde, die ihre Ahnungen verdrängen und den bequemen Weg des Schweigens wählen. Ignoranz und Selbstverleugnung aber machen Marie zu einer lebenden Toten, die allein im Funktionieren existiert. Hinter der Scham wiederum verbirgt sich der klassische Zweifel des Opfers, ob es nicht selbst schuld an seiner Misere sei.Das verschämte „Untenrum“ weicht klarer Benennung und schmutzig-realistischer Sprache. Da zieht man das Kind aus der „klaffenden Vagina“ und bringt „das unförmige, verquollene, mit Fruchtwasser, Blut und einer wächsernen, weißen Schmiere überzogene Wesen“ der Mutter. Dieses Hadern mit der Mutterschaft hat in Scham seinen Urgrund nicht nur im Zweifel über die Vaterschaft, sondern auch im Schmerz über den körperlichen Wandel und die durch die Gesellschaft vollzogene Instrumentalisierung des weiblichen Körpers. Bayards Roman ist ein Appell an alle Frauen, sich vom männlichen Blick unabhängig zu machen und den eigenen Körper nicht als Objekt der Begierde, sondern als Subjekt des eigenen Verlangens zu erfassen. Das erfordert experimentelle Phasen, in denen man auch einmal riskiert, „wie eine fette Sau oder ein Transvestit“ auszusehen. Am Ende könnte Freiheit stehen, wenn der Ekel vor den eigenen Ausdünstungen und die Angst vor einem gewaltigen Körper erst einmal verschwunden sind. Das Drama Maries aber besteht darin, dass sie „jetzt nichts mehr außer Hass lernt“.Eine Provokation ist nicht dieser schonungslose Text, sondern die unverschämte Wahrheit, die Bayard ihren Lesern serviert: „In eine gutbürgerliche, konservative Familie geboren, immer umsorgt, bei allen Entscheidungen von ihren Eltern ermutigt und unterstützt, kann sie die Abwege der menschlichen Seele nicht wirklich verstehen.“Natürlich ist das Buch ein Versuch, Leser aus ihrem Kokon zu locken. Selbstverständlich ist es auch eine Anklage gegen unsolidarische Frauen, die nur eine Form weiblichen Lebens, eine Form des Feminismus postulieren und anerkennen: „Die schreckliche Wahrheit der Hausfrauen tritt nur dann ans Licht, wenn sie ihren Feindinnen, den berufstätigen Frauen, unmittelbar gegenüberstehen.“Bayards Roman ist kein Thesenroman, „au contraire“, er haut Papiertigern die blutverschmierte Wirklichkeit um die Lefzen. Ein Debüt? Ja, geehrt mit einem Platz auf der Longlist des Prix Goncourt in Frankreich. Ein Debüt, das schwarz auf weiß beweist, dass sexuelle Gewalt literarisch erfasst werden kann, ohne in spröden Manifesten und einem Exzess der Leerstelle zu enden.Placeholder infobox-1