Hotel Savoy, Fasanenstraße. Von der Lobby aus fällt der Blick auf die Leuchtreklame des Delphi-Kinos, „Irrsinn“ und „Intrigen“ prangt dort in Riesenlettern. Édouard Louis, das blonde Haar akkurat und charakteristisch gescheitelt, nimmt sich fremd aus im plüschigen Ambiente dieses abgerockten Künstlerhotels im Westen Berlins. Wie ein leibhaftiges Paradoxon, Arbeiterkind und Shootingstar der französischen Literatur, die neue Stimme der französischen Polit-Avantgarde. Seinen Eltern kann er verzeihen. Sein Hass gilt den Mächtigen.
Der Freitag: Herr Louis, wenn man in Deutschland über aktuelle französische Literatur spricht, fallen immer gleich zwei Namen. Ihrer und der von Michel Houellebecq. In seinem neuen Roman „Serotonin“ packt Houellebecq ähnlich wie Sie die prekären Lebensumstände der Landbevölkerung an. Ist er Ihr Verbündeter?
Édouard Louis: Houellebecq interessiert mich überhaupt nicht. Er ist einfach ein sehr schlechter Schriftsteller, ein Reaktionär. Wenn ich dieses rassistische, homophobe Geschreibsel lese, dann habe ich nach drei Seiten die Nase voll. Was Houellebecq macht, ist keine Literatur für mich! Er wird in Vergessenheit geraten, wie es schon oft passiert ist in der Geschichte. Wer liest denn heute noch Céline? Ästhetik ist für mich mit Faschismus vollkommen unvereinbar. Ein Rassist kann keine schönen Sätze schreiben.
In Ihrem ersten Buch räumen Sie Ihrer Mutter viel Platz ein, im neuen dagegen kommt sie kaum vor. Weshalb?
(Lacht.) Weil es ein Buch über meinen Vater ist. Ich war immer stark von William Faulkner beeinflusst, ich sehe mich gewissermaßen als sein Erbe: Eine Familie ist ein Kontinent. Um alle Regionen zu erforschen, bräuchte ich zwölf Leben.
Hat Ihre Mutter versagt als Beschützerin des Sohnes?
Das ist eine schwierige Frage. Ja, meine Mutter litt so sehr unter meinem Vater, dass sie überhaupt keine Zeit hatte, sich um das Leiden ihrer Kinder zu kümmern. Sie hatte nicht das Privileg, über ihr eigenes Leben hinauszuschauen.
Verzeihen Sie ihr das?
Natürlich! Es ist ein bisschen wie mit den Gelbwesten: Die Gewalt meines Vaters ergriff auch von ihr Besitz, setzte sich in ihr fort. Ich bin aber stolz auf meine Mutter, denn sie hat es geschafft, auszubrechen, wegzugehen von meinem Vater.
In Ihrem Buch findet sich eine etwas seltsame Liebeserklärung an Ihren Vater: „Ich habe oft das Gefühl, dass ich dich liebe.“
Nun ja, ich kann nicht sagen, ob ich ihn liebe, wohl aber kann ich darüber schreiben, dass ich es nicht sagen kann. Das ist auch wieder eine Frage der Männlichkeit. Mein Vater hätte niemals „Ich liebe dich“ sagen können, das wäre ihm viel zu feminin erschienen. Ich meinerseits konnte es ihm nicht sagen, weil ich sehr früh wusste, dass ich gay bin, und darüber nicht sprechen konnte. Wie aber kann man jemanden seiner Liebe versichern, wenn man mit ihm nicht reden kann?
Ihre Formel lautet: Maskulinität gleich Hass auf Homosexualität gleich Armut. Ist es so einfach?
Absolut. Wenn man ständig die gleichen männlichen Verhaltensmuster perpetuiert, verharrt man in der immer gleichen sozialen Position. Das fängt schon in der Schule an, zumindest auf dem Land, wo das Lernen als unmännlich gilt. Männlichkeit und männliche Gewalt zu überdenken kann ein probates Mittel sein, die gesellschaftliche Wirklichkeit neu zu gestalten. Dafür dürfen wir aber nicht den Klassenbegriff wie in den 50er Jahren denken, sondern müssen die LGBT-Bewegung in das Konzept miteinbeziehen. Das ist auch meine These in Wer hat meinen Vater getötet: Wenn die Regierung Homophobie stärker bekämpfen würde, könnte sie auch die Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse verhindern.
Kann ein LGBT-Netzwerk helfen, sich aus der „Armut“ zu befreien?
Na klar. Sich in Kampfesgruppen zu organisieren hilft auf jeden Fall.
Ihr Vater machte eine politische Volte: Ursprünglich machte er Ausländer für sein Elend verantwortlich, jetzt beschuldigt er Frankreich des Rassismus. Wie hat man sich das zu erklären?
Mein Vater stammt aus der Arbeiterklasse. Er litt unter diesen Verhältnissen, und genau dieses Leid musste er irgendwie zum Ausdruck bringen. Mit einer starken Linken kann man die herrschende Klasse für das Leid verantwortlich machen. Fehlt diese Linke, sucht man in Migranten, Ausländern und Schwulen die Schuldigen. Im Zuge des Wiedererstarkens der Linken dank Mélenchon hat sich mein Vater gewandelt.
Ihre Sympathie gilt den Gelbwesten. Könnte sich aus Ihrer Sicht die Stimmung rund um diese Bewegung ausbreiten – über die Landesgrenzen hinweg?
Das weiß ich nicht. Ich kann die Gegenwart analysieren, aber nicht die Zukunft vorhersagen. Eines ist jedoch gewiss: Zum ersten Mal in meinem Leben erlebe ich die Herrschenden angsterfüllt. Und ich weiß, was Angst bedeutet, und auch, wozu sie führen kann, denn meine ganze Kindheit war von Angst geprägt. Was eine grenzüberschreitende Revolte betrifft: Ich hoffe es! Wir brauchen Intellektuelle, Literaten, die Aufstände unterstützen, anstatt darüber nachzudenken, ob das ihrem Ruf als Kulturschaffende schaden könnte. Den Rechten ist das bedauerlicherweise schon gelungen.
Zur Person

Foto: Joel Saget/AFP
Édouard Louis, 1992 als Eddy Bellegueule in einer prekär lebenden Arbeiterfamilie in Nordfrankreich geboren, ermöglichte seine Theaterbegeisterung den Besuch einer höheren Schule und schließlich das Soziologiestudium bei Didier Eribon. Weltbekannt wurde er durch Das Ende von Eddy (2015). 2019 erschien Wer hat meinen Vater umgebracht (siehe der Freitag 4/2019)
Fürchten Sie nicht, dass man Ihnen Arbeiterklassen-Romantik vorwirft? Jeder mir bekannte Arbeiter wünscht sich ein besseres Dasein, eine höhere soziale Position für seine Kinder ...
Das ist kompliziert, denn die heftigste Kritik gegen die Arbeiterklasse habe ich in meiner Kindheit gehört. Meine Mutter sagte immer: Das sind Bauerntölpel, Schwachköpfe! Sie wollte immer, dass ich rauskomme aus diesem Milieu. Andererseits war sie auch innerlich zerrissen, da sie ja in dieser Schicht verankert war. Man muss sich von diesem eigentümlichen Bild des Arbeiters als des „Wilden“ beziehungsweise „schönen Wilden“ verabschieden.
Ihr neues Buch macht im Élysée die Runde. Emmanuel Macron glaubt, dass Sie seine Analyse der Gesellschaft teilen und sein Projekt der Autonomie und Emanzipation unterstützen.
Das sind Fake News! Obwohl, wenn das Buch tatsächlich im Élysée zirkuliert, dann würde das gut zu Macrons Strategie passen, die Opposition für sich zu reklamieren. Eine seiner Ministerinnen, Marlène Schiappa, hat sich neulich als Marxistin geoutet. Macrons Herrschaft prägt eine brutale Staatsgewalt. Schauen Sie sich die Polizisten an, die einige Gelbwesten verstümmelt haben – ja, verstümmelt! Macron ist kein Liberaler. Er hat Leute in seiner Regierung, die sich klar gegen Gays aussprechen, gegen die Ehe für alle. Das ist eine üble Kombination: eine neoliberale Wirtschaft und brutale Staatsgewalt. Wenn Macron gar vorgibt, auf der Seite der Gelbwesten zu stehen, ist das einfach eine Lüge. Die Lüge in der Politik dient heute der Durchsetzung der Staatsgewalt. Für mich ist eines ganz klar: Man ist entweder rechts oder links, nicht in diesem Dazwischen, in dem sich Macron bewegt.
Neoliberale wie Macron sind Ihre erklärten Feinde. Denen setzen Sie eine neomarxistische Perspektive entgegen. Soll der Kommunismus wiederauferstehen?
Ich sehe mich nicht als Macrons Feind. Er greift mich an, nicht ich ihn. Diese technokratische, homophobe Regierung attackiert die Armen, die Minderheiten, Frauen. Ich versuche mich lediglich zu verteidigen. Was den Kommunismus betrifft: Ich denke nicht in diesen Begriffen, und Politik mag ich ohnehin nicht sehr. Lieber geh ich was trinken mit Freunden, als dass ich mir auf einer Demo Tränengas ins Gesicht sprühen lasse. Das Ideal wäre für mich das Ende der Politik, eine Welt, in der wir alle gleich sind, ohne dass wir dafür kämpfen müssen.
So friedliebend sind Sie nicht. Sie rufen sogar zur Revolte auf. Revolte bedeutet nicht selten Gewalt. Gibt es für Sie eine legitime Form der Gewalt?
Es geht mir nicht um legitime oder illegitime Gewalt, sondern darum, was man überhaupt unter Gewalt versteht. Arme Menschen, die auf die Straße gehen und einen Bus anzünden – das nenne ich nicht Gewalt. Ganz im Gegenteil, das ist ein Kampf gegen Gewalt, in gewisser Weise Notwehr. Macrons Gewalt prasselt auf diese Leute nieder, sodass sie gar nicht anders handeln können. Gewalt ist eine Art Elektrizität, die diese Menschen durchströmt.
Man könnte fast meinen, dass Sie Gewalt entschuldigen. Ihr Vergewaltiger, von dem Sie in Ihrem zweiten Roman „Im Herzen der Gewalt“ erzählen, stammt aus Nordafrika.
Diesen Menschen entschuldige ich ganz gewiss nicht! Ich hasse ihn mehr als jeden anderen, er macht mir mehr Angst als jeder andere. Aber um Gewalt zu verstehen, muss man sie historisch begreifen, so wie das Simone de Beauvoir gemacht hat. Ich schreibe mich in die Linie der Autoren ein, die den Ursachen von Gewalt auf der Spur sind und nicht einfach sagen: Dieses miese Arschloch! Durch die Erzählung versuche ich den rassistischen Diskurs zu dekonstruieren. Ich verweigere mich auch der Vereinnahmung. Sexuelle Gewalt geht genauso von Weißen aus, aber eben auch von Nordafrikanern. Man darf das eine ebenso wenig verschweigen wie das andere.
Die Schriftstellerin Leïla Slimani plädiert für eine realistische Sicht auf die machistische Sexualität nordafrikanischer Männer. Sie beklagt sich über französische Intellektuelle, die Gefahren nicht sehen wollten aus Angst davor, als Rassisten zu gelten ...
Puh, das kann ich schwer beantworten, da ich nie in Nordafrika gewesen bin. Mir ist sehr wichtig, dass man über Dinge schreibt, die man auch kennt. Michel Foucault nannte das den „spezifischen Intellektuellen“. Er untersuchte Gefängnisse, die Psychiatrie, nicht den Menschen im Allgemeinen. Ich schaue mir das Milieu an, in dem ich aufgewachsen bin: weiß und homophob. Man sollte immer wieder neue Problematisierungs- und Sprachmodi erfinden, um nicht Verallgemeinerungen, über „die nordafrikanische Sexualität“ zum Beispiel, zu erliegen. Als ich hier in Berlin an der FU unterrichtete, habe ich auch Gewalt unter deutschen Männern, auch aus der Bourgeoisie, erlebt. Es geht also nicht um deutsche oder nordafrikanische Gewalt, sondern um maskuline Gewalt generell.
Sie arbeiten vorzugsweise mit Klage und Anklage. In Deutschland schreibt man diesen Opfermodus der Rechten zu ...
Das ist interessant; das wusste ich nicht. In Frankreich ist es auch nicht gern gesehen, wenn man sich beklagt. Ich aber finde es großartig, sehr bewegend, sich zu beklagen. Violette Leduc, eine berühmte Schriftstellerin, hat die Klage zu einer literarischen Form gemacht. Es gibt in Frankreich die Tradition der „cahiers de doléances“ („Beschwerdehefte“, d. Red.). Die Klage war das erste Mittel, um gesellschaftliche Probleme zu erfassen und damit auf Veränderungen hinzuwirken. Es gibt auf der anderen Seite natürlich auch dieses Opfergebaren der Herrschenden, das ich fürchterlich finde.
Sie bringen das Leid der Körper, die physische Wirkung von Macht und Gewalt zur Sprache. Wird der Körper in der Literatur vernachlässigt?
Oh ja, denn es wird immer vergessen, dass Politik eine Frage von Leben und Tod ist! Da geht es nicht nur um Management und Verwaltung ... Wenn man in Frankreich Arbeiter ist, dann ist das Risiko doppelt so hoch, vor dem fünfundfünfzigsten Lebensjahr zu sterben. Politik wirkt sich direkt auf den Körper aus. Indem ich von Körpern spreche, konfrontiere ich die Menschen mit der Leugnung dieser Wirklichkeit.
Sie sind 26 Jahre alt. Wie vermeiden Sie es, Opfer des eigenen Erfolgs zu werden? Wie verhindern Sie, dass sich Ihr Engagement als Strohfeuer entpuppt oder man Sie demnächst auch anfeindet?
Ich habe das Glück, nicht wirklich zur Bourgeoisie zu gehören, weil man mir immer meine Herkunft vorhalten wird. Ich habe mich immer als Außenseiter gefühlt, mich nie den bürgerlichen Anforderungen gebeugt. Deshalb tangiert es mich nicht, was die Leute von mir halten. Wenn ich aber 500 Exemplare von einem Buch verkaufe, und Toni Morrison sagt mir, das sei gut, dann bedeutet das Erfolg für mich.
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