„Noli me tangere“, sagte Jesus zu Maria Magdalena, als sie den Auferstandenen umarmen wollte. Vorausgegangen war dem Berührungsverbot ein Missverständnis. Maria Magdalena hatte den Sohn Gottes für den Gärtner gehalten und ihn nach dem Verbleib des Leibes Jesu im leeren Grab gefragt. Ein boulevardeskes Qui pro quo biblischen Ausmaßes mit göttlichen Auslegungsmöglichkeiten! Jesus ist eine schillernde Figur und wird besonders in brenzligen Zeiten immer wieder als Identifikationsfigur ins Rampenlicht gezerrt. Kein Wunder, schließlich konnte er übers Wasser gehen, Tote zum Leben erwecken und sündige Frauen vor der Steinigung retten. Jesus und Maria hatten dabei Glück, dass unter den Steinewerfern keine Pharisäer waren, die allein schon um ihre eigenen Schandtaten zu bedecken, die anderen mit Dreck bewerfen. In den 1970ern war Jesus ästhetisches Vorbild und Galionsfigur der Anhänger des Urchristentums. Mit Jesuslatschen, Leinenhemden und gescheiteltem Langhaar versuchte man sich an der Fusion von christlichem Gedankengut und Sozialismus. Vergeltung war verpönt, stattdessen hielt man auch die rechte Wange hin. Nicht zu vergessen Jesus Christ Superstar! In der gleichnamigen Rockoper aus dem Jahre 1971 ging Jesus gar eine Beziehung mit Maria Magdalena ein, was freilich nicht zum „Noli me tangere„ passt und auch nicht zu der Vermutung, Jesus habe mit seinen Jüngern weit mehr verbunden als eine spirituell-sozialrevolutionäre Neigung. Jesus hatte wohl von Natur aus diese genderfluide Ausstrahlung, die sich andere erst mühsam erarbeiten müssen.
Auch Superstar Kanye West, offiziell Bad Boy und strammer Hetero, fühlt sich heftig zu Jesus hingezogen. Auf seinem Album Jesus is King outete er sich als Jünger Jesu. Allerdings ist Reichtum bei Kanye nicht verpönt. Während Jesus eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gelangen ließ als einen Reichen in den Himmel, glaubt Kanye an das „Wohlstandsevangelium“. Materielle Wonnen seien den Menschen bereits auf Erden vergönnt, Gottes Güte zeige sich in Wohlstand, Gesundheit und Erfolg zu Leibzeiten. Er, Kanye, sei das beste Beispiel.
Jesus als Projektionsfläche hat zu allen Zeiten und in allen Genres Konjunktur, der 1954 geborene, mehrfach ausgezeichnete kanadische Autor, Theaterregisseur und Schauspieler Larry Tremblay lässt Jesus in einem BDSM-gesättigten Roman Der feiste Christus wiederauferstehen. Edgar, ein skurriler Einzelgänger, wird in der Nähe des Grabes seiner Mutter Zeuge eines Verbrechens. Vier „apokalyptische Reiter“ misshandeln und vergewaltigen eine junge Gestalt. Den gequälten Menschen schleppt Edgar zu sich nach Hause und lässt ihn genesen. Das Buch ist, so der Verlag, eine „Auseinandersetzung mit der Figur des Erlösers und mit dem Katholizismus“, der Québec lange Zeit prägte, in erster Linie aber ist es eine Hommage an die masochistische Ikonografie des Katholizismus. Der Heilige Sebastian, von Pfeilen durchbohrt, Jesus mit der Dornenkrone, Selbstzüchtigung und Fußfetisch – welchen Qualfetisch finden wir nicht in der Bibel oder in Heiligenlegenden?
Vexierspiel der Geschlechter
Auch das „Noli me tangere“ kann als luststeigerndes Verzichtsprogramm interpretiert werden, als verbaler Keuschheitsgürtel sozusagen. Tremblay spielt geschickt mit sadistisch-masochistischen Referenzen, ohne jedoch beim Leser einen Überdruss zu erzeugen. Da liegt das malträtierte Wesen auf dem Bett, wie hingenagelt ans Kreuz respektive Andreaskreuz: „Ich kehrte in mein Zimmer zurück, öffnete den Kleiderschrank, nahm vier Krawatten heraus und beeilte mich, seine Arme und Beine an den Bettpfosten festzubinden. Sein kreuzförmiger Körper hatte keinen Tonus mehr.“
Tremblay erschafft mit Edgar einen Pfleger, der gerade in seiner Macht der Wirklichkeit näher kommt, als man zunächst glaubt. Edgar entscheidet über den Grad der Gesundung. Das Abhängigkeitsverhältnis aber ist wechselseitig. Der Kranke lässt den Pfleger auf Bonuspunkte fürs Paradies hoffen, der Pfleger gibt dem Kranken eine Chance auf Selbstständigkeit bei gleichzeitigem Wissen um unbedingten Schutz. Es ist ein geradezu klassisches Setting für trügerische masochistisch-sadistische Machtspielchen: „Ich hatte keinen Grund, mich vor einer Person zu schützen, die ich wie eine leblose Puppe manipulierte.“
Edgar sieht Jean, so nennt er das Wesen zu Ehren Johannes XXIII., des Lieblingspapstes seiner Mutter, als seinen Erlöser, spiegelt sich aber selbst in diesem. Erlöst zu werden wünscht man Edgar von vielem: dem dubiosen Vater, der übermächtigen Mutter und der unterdrückten, unbekannten Sexualität. Tremblays Roman ist auch ein Vexierspiel der Geschlechter, in dem sich Schein und Sein überblenden. Männliche Gewalt führt hinein in eine Spirale der Rache, in der sich Frauen sogar als besonders ambitioniert erweisen. Eine Leistungsschau des Leids und der Rache bietet uns Tremblay dar, geboren aus Neid und Konkurrenz: „Vor allem aber war ich eifersüchtig auf Christus, auf sein Leiden, das tausendmal mehr wert war als meines.“ Das ist kühn und lächerlich zugleich, ein zugespitzter Leistungsgedanke trägt eben beide Eigenschaften in sich.
Sprachlich schöpft Tremblay nicht nur aus der Hagiografie, sondern auch, und das gekonnt, aus Batailles Obszönem: „Sein Leiden kam mir wie ein riesiges verletztes Feld vor, wo das Böse das Blau infizierte, so weit das Auge reicht.“ Apropos Auge: Das Buch ist natürlich auch eine Geschichte des Auges. Bei Tremblay durchläuft das Auge zwar nicht ganz so viele Wandlungen wie bei Bataille. Ganz im Gegenteil versucht es in der Gefriertruhe der Transformation zu widerstehen. Wandlungen aber erfährt der Leib Christi, der als „Feedie“ feist und fett wird.
Zuguterletzt räumt Tremblay auf mit der Verniedlichung der Katze und schenkt ihr wieder die Anerkennung, die ihr gebührt, denn: „Katzen sind diabolische Tiere.“ Tremblays Buch ist ein Satanstango, ein Stück über die Verführungskraft der Gewalt und die Bannung des Erlösers im ewigen Kreis des Bösen.
Info
Der feiste Christus Larry Tremblay Michael Killisch-Horn (Übers.), Verlag Faber & Faber 2020, 128 S., 20 €
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