Sünde, Seele, Schock

Sexueller Missbrauch Die Figur der Lolita polarisiert: Puritanische Militaristen gegen libertäre Relativierer. Missbrauchsopfern ist damit genauso wenig gedient wie der Freiheit der Kunst

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Wenn sich Jugendliche auf Bühnen räkeln - Miley Cyrus mit 18 Jahren bei einem Auftritt bei "Wetten, dass?"
Wenn sich Jugendliche auf Bühnen räkeln - Miley Cyrus mit 18 Jahren bei einem Auftritt bei "Wetten, dass?"

Foto: Ronny Hartmann/Bongarts/Getty Images

Lolitas überall! Die Online-Shops quellen über mit Schulmädchen-Looks. Miley Cyrus schwingt ihren mädchenhaften Körper nackt auf Abrissbirnen und auf Instagram lassen sich Zwölfjährige in Fail-Videos Eis aufs T-Shirt tropfen. Ganz zu schweigen von Berlins Hotspots, an denen blonde Elfen mit Pony und weißem Kleid an Szenegrößen und alternden Bonvivants vorbeischweben. Lolita hat sich in unsere Köpfe gebrannt als ein kokettes Ding, das den Männern den Kopf verdreht. Die dunkle Seite des Mondes verdrängen wir. Wir sehen nur das Spiel, den Lolicon, den Mann, der sich zu einem pubertierenden Mädchen hingezogen fühlt. Höchste Zeit, die Augen zu öffnen und Lolita in die Seele zu schauen!

Blonde Zöpfe, Söckchen, Röckchen und Kulleraugen hinter einer Herzchenbrille, nicht zu vergessen der Lolli, der sich zwischen die glänzenden Lippen schiebt – So sieht sie aus! Lolita! Das Mädchen, das dem guten alten Humbert Humbert Kopf und Kragen kostet! Lolita, die Liebe seines Lebens, das Feuer seiner Lenden!

Als Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ in den prüden fünfziger Jahren erschein, provozierte er einen Aufschrei, eine Armada an entrüsteten Kritiken. Humbert Humbert, ein Mann in den besten Jahren, verfällt den Reizen des zwölfjährigen Mädchens Dolores, genannt Lolita. Er heiratet die Mutter, um in der Nähe des Kindes zu sein. Als die Mutter verunglückt, beginnt ein Roadmovie, an dessen Ende Humbert Humbert wegen Mordes im Gefängnis und Lolita bei der Geburt ihres Kindes stirbt.

Herzschmerz oder Skandal?

Das klingt eher nach einer Herzschmerz-Geschichte als nach einem Skandalroman, dem man Pädophilie und Pornographie vorgeworfen hat, obwohl es keine einzige explizite Szene gibt. Tatsache aber ist, dass Nabokov die Pest an den Hals gewünscht und in typischer Doppelmoral der Roman zugleich die Bestsellerliste der Vereinigten Staaten anführte. Schnell entwickelte sich Lolita zu einem weltweiten Phänomen, gewann eine Eigendynamik, die mit der Vielschichtigkeit des Romans kaum mehr etwas zu tun hatte. Von den Fragen nach der Vereinbarkeit von Sex und Liebe, Projektion und Wirklichkeit, Verführung und Missbrauch blieb nur das Bild eines frühreifen Mädchens. Lolita geistert seither durch die Filmgeschichte, räkelt sich mit Lutschern auf Sofas und wickelt machtlose Männer um ihre zartgliedrigen Finger.

Hamiltons Nymphetten – das Motiv der Kindfrau

Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Lolita-Ästhetik in den siebziger Jahren, als der britische Fotograf David Hamilton diaphane Blondinen in transparente Tuniken hüllte und über Blumenwiesen tanzen ließ. Die Weichzeichner-Fotos verstörte zunächst niemand. Über den Bildern lag etwas Unwirkliches. Hamiltons Nymphetten schienen einer Traumwelt entsprungen und waren damit unberührbar, rein, losgelöst von männlichem Begehren. Es entwickelte sich eine visuelle Ästhetik der Kindfrau, eines Wesens, das sowohl Merkmale sexueller Reife als auch der Kindheit trägt. Diese Ambivalenz zeigt sich auch im Umgang mit Sexualität. Einerseits wird der Kindfrau ein Spiel mit sexuellen Reizen zugetraut, andererseits lebt sie von ihrer Unschuld und Unberührtheit. Die Filmgeschichte der siebziger Jahre ist gespickt mit Lolitas in allen Variationen. Im Kult-Tatort „Reifeprüfung“ weckte Nastassja Kinski Begehrlichkeiten in nahezu jedem Sonntagskrimi-Zuschauer. Das Motiv der Schülerin, die sich in den Lehrer verliebt, das Bild der gefährlichen Nymphchen-Geliebten wurde in allen Facetten dekliniert. Selten nimmt es ein gutes Ende mit den Mädchen. Meist enden sie im Grab. Ihre Schöpfer entgehen so dem Drama dabei zusehen zu müssen, wie sich das Unschuldswesen in eine Frau und Mutter verwandelt. Roman Polanski hatte sich mit Tess of the d’Urbervilles von Thomas Hardy der Tragik des Unschuldswesens ein besonders bitteres Schicksal auserwählt. Tess wird nicht nur die Unschuld geraubt. Nach einem elenden Leben und dem Verlust ihres Kindes verkauft sie sich an ihren Missetäter und tötet ihn schließlich. Sie selbst wird wegen Mordes exekutiert. Kein Unschuldswesen, keine Kindfrau darf in Literatur und Film überleben, ein Leben als Frau und Mutter leben.

Lolita ist nur eine kurze Lebenszeit vergönnt.

Sexuelle Freiheit und Recht auf Kindheit

Der poetischen Existenz entrissen wurden die Kindfrauen erst durch die Verfechter der sexuellen Freiheit in den späten siebziger Jahren. Hamiltons Softporno-Filmchen und Nymphetten-Bildwelten erschienen plötzlich in einem anderen Licht. Der Ruf nach sexueller Freiheit auch für Kinder wurde laut. Der Wortführer der Bewegung Gunther Amendt sagte 1980 in einem Interview mit Alice Schwarzer: “Ist es nicht besser, wenn ein total isolierter Junge oder ein isoliertes Mädchen, das emotional verarmt und verelendet und vom leiblichen Vater oder sogar von der Mutter (auch das gibt es) geprügelt wird, wenn ein solches Kind stattdessen einen Erwachsenen findet, der liebevoll zärtlich zu ihm ist, es fördert.” Der Ungeheuerlichkeit dieser Aussage schien sich Amendt nicht einmal bewusst gewesen zu sein.

Feministinnen wurden zuerst hellhörig. Sollte hier wieder einmal das weibliche Geschlecht auf dem Altar männlicher Politik geopfert werden? Wurde männliche Begierde, Verlangen nach der Kindfrau verbrämt mit dem Begriff der Freiheit?

Lolita als Gegenfigur zur emanzipierten Frau

Sich mit dem Gedanken zu begnügen, dass sich über Geschmack nicht streiten lässt, der eine eben Blondinen, der andere Schneewittchen bevorzugt, griffe entschieden zu kurz. Die Faszination der Lolita-Figur wurzelt nicht nur in schmalen Hüften, knospenden Brüsten und Fohlenbeinen. Mit den äußeren Merkmalen gehen auch Charaktereigenschaften einher. Lolita ist ein Wesen auf der Schwelle zum Frausein, dem ein naives sexuelles Empfinden zugeschreiben wird. Ein Mann, dessen Blick sich auf Lolita richtet, besitzt die Macht, die keimende Sexualität zu dominieren. Er erschafft sich ein Objekt der Begierde und formt es ganz nach seinem Gusto. Zugleich rechtfertigt er sein Handeln mit dem Argument, die Kindfrau sei von Natur aus eine Verführerin, deren Magie er sich nicht entziehen könne. Kapriziert sich ein Mann auf eine Kindfrau, schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe: Er entledigt sich seiner sexuellen Eigenverantwortung, da er unweigerlich dem unentrinnbaren Charme einer Lolita verfallen muss. Zugleich löst sich die Geschlechterfrage im Nichts auf: Statt sich mit den Charakterzügen und Ansprüchen einer selbständigen Frau auseinandersetzen zu müssen, genießt der Mann ein Wesen, das noch unverdorben ist von Freigeistigkeit und eigenen Bedürfnissen.

Lolita – Kunstfigur und Wirklichkeit

Die Crux der Lolita-Figur liegt in der Vermengung von Konstruktion und Wirklichkeit. Als literarische Figur, als ästhetisches Motiv existiert Lolita in einem wertungsfreien Raum. Leser und Betrachter wenden literatur-und kunstkritische oder auch urpersönliche Kriterien zu ihrer Bewertung an. Nicht zuletzt hängt es von der herrschenden Moral und dem geltenden Kodex einer Epoche ab, ob das Etikett Kunst bzw. Literatur verliehen wird. Sobald ein Text oder ein Motiv jedoch an einem neuralgischen Punkt der Gesellschaft oder des menschlichen Innenlebens rührt, droht das fragile Gleichgewicht zwischen Kunst und Wirklichkeit zu kippen. Wenn der Leser in dem Mädchen Dolores Haze nur mehr Lolita sieht, ein Objekt der Begierde, dann läuft er Gefahr, den Manipulationen des Erzählers Humbert Humbert auf den Leim zu gehen. Wenn er dann noch die Kunstfigur Lolita eins zu eins auf real existierende Mädchen überträgt und diesen damit ihre Individualität nimmt, ist Wachsamkeit angeraten. Ein Mann, der ein Konstrukt für bare Münze nimmt, verkennt, dass es das Mädchen Dolores Haze in Nabokovs Roman gibt, ein Mädchen, das missbraucht wird vom eigenen Stiefvater. Lolita entsteht erst durch den begehrenden Blick des Mannes. Dolores Haze aber ist ein Mädchen, das mit einer ihr selbst nicht klaren Sinnlichkeit spielt, ein Mädchen, das ihre Wirkung auf das männliche Geschlecht genießt wie Zuckerwatte. Ein süßer, schneller Genuss, ohne Gedanken an Nachwirkungen und Kollateralschäden. Das Spiel nimmt ein Ende, als Humbert Humbert Dolores in seinen Kokon einspinnt und das spielerische Ausprobieren der Sinne in einer unentrinnbaren Verfügbarkeit endet. Lolita wird nur zum Liebesroman aus dem Blickwinkel des Täters. Aus der Perspektive des Opfers ist es die Geschichte des Missbrauchs des Mädchens Dolores Haze. Diese Unterscheidung erkennt aber nur ein klarsichtiger Beobachter, da Humbert Humbert ein begnadeter Manipulateur ist. Die Verfilmungen durch Stanley Kubrick und Adrian Lyne haben ein Übriges dazu beigetragen, Dolores Haze als Enfant fatale auf die Leinwand zu bannen. Als Zuschauer erliegt man schnell den Bildern, die uns die Unbeschwertheit eines amerikanischen Teenagerlebens mit Softeis und Zuckersirup vorspiegeln. Selbst der Soundtrack der Kubrick-Verfilmung schafft es nicht, mit seinen zuckersüßen Lala-Songs uns einen Schauer des Entsetzens über den Rücken laufen zu lassen, sondern zieht uns hinein in einen Sog der genießerischen Verharmlosung.

Skandale – Polanski, Kinski, Allen

Das Bild der Lolita fatale hat sich schon so in uns festgesetzt, dass wir skandalösen Enthüllungen über Missbrauch kaum mehr Gehör schenken. Als Pola Kinski vor ein paar Jahren über den jahrelang währenden Missbrauch durch ihren Vater Klaus Kinski ein Buch schrieb, setzte sich die übliche Maschinerie der Promi-Kunst-Lobbyisten in Gang. Zweifel säen, diffamieren, ein wenig bemitleiden und in der Versenkung verschwinden lassen. Künstlern wird eine Narrenfreiheit zugestanden, die jeden Manager, jeden Priester inzwischen sogar den Kopf kosten würde. Otto Mühl, ein österreichischer Aktionskünstler, bekannte sich dazu, die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufheben zu wollen. Damit rechtfertigte er auch den Missbrauch von Kindern. 1991 wurde er schließlich verurteilt. Polanski entkam der Justiz, Kinski starb und Woody Allens Stieftochter Dylan beklagt erfolglos die Übergriffe des prominenten Vaters. David Hamilton hat sich durch Selbsttötung einem Prozess wegen Vergewaltigung entzogen. Dem möglichen Opfer, der französischen Moderatorin Flavie Flament, wird keine weltliche Gerechtigkeit mehr widerfahren. Ganz im Gegenteil sieht sie sich mit Diffamierungskampagnen konfrontiert. Selbst ihre Mutter lässt sie – ein zweites Mal – im Stich. Glamour und Genievergötterung triumphieren über die Unversehrtheit von Kindern.

Keine Zensur, sondern geschärfter Blick auf die Wirklichkeit!

Die Figur der Lolita hat in unserer Gesellschaft eine Diskussion in Gang gesetzt, die uns erschrecken müsste. Auf der einen Seite befinden sich puritanische Militaristen, die jede Darstellung eines jungen Mädchens mit dem Stigma des Missbrauchs belegen, auf der anderen Seite libertäre Relativierer, die Missbrauch als Zeitkolorit der siebziger Jahre betrachten. Wenn wir in diese polemische Falle tappen, ist Missbrauchsopfern genauso wenig gedient wie der Freiheit der Kunst. Zensur ist eine Ultima Ratio, die hier fehl am Platz ist. Kunst sollte als Kunst Bestand haben und nicht unweigerlich als Transfer-und Schnittstelle zur Wirklichkeit gesehen werden. Kunst und Leben sind zwei verschiedene Wahrnehmungs- und Handlungsräume. Gefährlich kann es jedoch werden, wenn das Leben als Kunstwerk betrachtet wird und Individuen für das Spiel des Lebens instrumentalisiert werden. Unser Augenmerk sollten wir nicht auf Zensur richten, sondern auf Menschen, die Kunst zur Legitimation ihrer eigenen Bedürfnisse und Taten nutzen, zu Handlungen, die klar gegen Recht und Gesetz verstoßen. Ästhetische Vorlieben sollte man als solche gelten lassen. Wenn Künstler wie Polanski und Kinski nicht nur filmisch Lolita-Figuren lebendig werden lassen, sondern auch im wirklichen Leben eine Vorliebe für Kindfrauen hegen, sollte uns das zu denken geben. Zumindest, was die Glaubwürdigkeit der Opfer betrifft. Der solidarische Blick eines Lesers, Zuschauers, der wachsame Blick einer Mutter helfen, die verwundbare Lebensphase der Wandlung vom Kind zur Frau zu schützen.

Ausweitung des Nahraums – Social Media

Gerade jetzt, in einer Zeit, in der stets neue Lolita-Figuren (Miley Cyrus et al.) im Internet aufpoppen, sollten wir Dolores Haze, das Mädchen aus Lolita wieder mehr ins Blickfeld nehmen. Täter brauchen heute kein langes Vertrauensverhältnis mehr aufzubauen über den Umweg, die Mütter zu heiraten. Heute genügt es, fiktive Persönlichkeiten in den Social Media zu kreieren, Mädchen mit dieser Scheinwirklichkeit einzulullen und dann im wirklichen Leben den letzten Schritt zum Missbrauch zu vollziehen. Der Nahraum, der Raum, in dem Vertrauen gebildet wird, weitet sich aus ins Unendliche. Dantes Beatrice, Mignon, Lulu, Lolita finden im Internet Nachahmerinnen, Klone, Kopien, Neugeburten, die sich dem Grenzgang ihrer Inszenierungen nur selten bewusst sind.

Das stellt vor allem uns Mütter vor ganz neue Herausforderungen: Wir müssen uns selbst hinterfragen, unsere eigene Youtube-Schönheitsköniginnen-Mentalität auf den Prüfstand stellen, ohne übertriebener Prüderie und moralischem Narzissmus zum Opfer zu fallen.

Nur dann können sich sich unsere Kinder in der empfindsamst-empfindlichen Phase ihres Lebens frei und geschützt entwickeln.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ute Cohen

"Intelligenz lähmt,schwächt,hindert?:Ihr werd't Euch wundern!:Scharf wie'n Terrier macht se!!"Arno Schmidt

Ute Cohen

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