Samstagvormittag, Haus der Bundespressekonferenz. Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe e. V. jagt von einem Termin zum anderen. Er ist ein gefragter Gesprächspartner. Nicht zuletzt seinem Engagement ist es zu verdanken, dass „Kindesmissbrauch“ – dieser unglückliche Begriff wird im Gespräch diskutiert – künftig nicht mehr als Vergehen, sondern als Verbrechen gewertet wird. Und doch hegt Becker Zweifel an „unserem System der Bestrafung“. Er hält mehr von Ausgleich, da, wo es möglich ist.
der Freitag: Herr Becker, Sie gelten als der vielleicht bissigste unter den Kinderschützern. Sogar die Bundesjustizministerin machte nach Ihren Protesten eine Kehrtwende.
Rainer Becker: Wenn die Sache es erfordert, dann gehe ich so vor. Generell zweifle ich Autorität erst einmal an, das war bereits während meiner Beamtenlaufbahn so; es machte mir immer schon Freude, Höherrangigen – sofern erforderlich – zu widersprechen. Ich gestehe, dass ich dem Beginn meines Ruhestands, von dem an ich nicht mehr weisungsgebunden wäre, regelrecht entgegengefiebert habe. Natürlich habe ich mir im Laufe der Zeit auch eine gewisse Diplomatie antrainiert, denn es ist natürlich nie verkehrt, wenn der andere sein Gesicht wahren kann. Ich bemühe mich einfach, die Dinge auf den Punkt zu bringen, bin so ein „Jetzt erst recht“-Typ. Wenn Christine Lambrecht mich nicht zunächst ignoriert hätte, wäre es ihr möglicherweise sogar gelungen, mich einzuwickeln, da ich ziemlich harmoniebedürftig bin (lacht). So aber musste ich eine Konfrontation mit meinen Ansichten erzwingen. Das ist vielleicht nicht besonders edel, aber ich bin so. Vielleicht habe ich auch ein bisschen das Blut eines Schauspielers in mir. Meinen Auftritt kriege ich aber nur hin, wenn ich für eine Sache brenne und mich zu hundert Prozent mit ihr identifiziere.
Lässt sich dieses „David gegen Goliath“-Phänomen aus Ihrer Herkunft erklären?
Ja. Ich habe nie ganz dazugehört. Ich war ein Arbeiterkind, meine Eltern entstammten der Kriegs- und Flüchtlingsgeneration. Sie haben wahrscheinlich sehr viel Gewalt erlebt und erzogen mich als Einzelkind so, wie sie das für normal hielten. Damals nannte man das nicht Misshandlung, sondern schwere Züchtigung. Man glaubte die Menschen dahin biegen zu müssen, wo man sie hinbiegen konnte. Ich hatte schon damals einen recht rebellischen Geist, und wenn meine Eltern mich nicht verstanden, glaubten sie sich körperlich durchsetzen zu müssen. Ich aber sagte mir: Wenn man dich heute biegt, wirst du dich morgen wieder aufrichten. Mein gestörtes Verhältnis zu Autorität rührt sicher aus dieser Zeit.
Was hat Sie als ehemaligen Polizeidirektor bewogen, sich für die Deutsche Kinderhilfe e. V. zu engagieren?
Das begann im Jahre 2007, einem Jahr, in dem es sehr viele tote Kinder in Deutschland gab. Ich verfasste damals einen Fachartikel über polizeiliche Gefahrenabwehr und sollte der Redaktion erklären, aus welchem Grund ich mich so sehr engagiere. Ich begann zu erklären, dass ich selbst einen Sohn hätte und so fort. Plötzlich aber blieb mir die Luft weg, weil ich spürte, dass das nicht stimmt. Mir wurde klar, dass ich aufgrund meiner Kindheit selbst betroffen war! Das habe ich damals in dem Artikel zwar nicht erwähnt, aber die Auseinandersetzung mit der Frage hat etwas in mir in Bewegung gebracht.
Sie verstehen sich trotz aller Schärfe als Brückenbauer zwischen Recht und Sozialwesen.
Ja, die Polizei kochte zu jener Zeit in ihrem eigenen Saft, die Justiz regte sich über die Polizei auf, die Sozialarbeiter sich über beide. So begann ich Veranstaltungen mit interessanten Inhalten für alle zu organisieren. In den Pausen kamen dann all jene miteinander ins Gespräch, die sonst nicht miteinander geredet haben. Das ist auch heute mein Credo: Wie kann ich Menschen zusammenbringen, damit sie gemeinsam ihre Ziele erreichen.
Zur Person

Foto: IPON/Imago Images
Rainer Becker, geb. 1956 in Hamburg. Polizeiausbildung mit 16, seit 2015 Polizeidirektor a. D., heute Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe e. V. Mit seinem Sohn fährt er zu BVB-Spielen, er schreibt gerne Gedichte
Wie erklären Sie sich, dass das Thema „Sexuelle Gewalt gegen Kinder“ seit Jahrzehnten diskutiert wird, die Lage sich jedoch zusehends verschlimmert? Laut Kriminalstatistik nahmen die Fälle im vergangenen Jahr um neun Prozent zu.
Vieles verpufft. Die Menschen sind zwar in Bezug auf sexuelle Gewalt sensibilisiert. Die Anzeigebereitschaft jedoch ist aber nur bei fremden Tätern hoch, nicht bei solchen im eigenen Umfeld. Wir haben eine starke Überfrachtung in ganz vielen Medien; eine Reizüberflutung, die zu Abstumpfung führt. Man ist allgemein stets auf der Suche nach dem ultimativen Kick. Das sieht man auch bei der Sexualität Erwachsener: Wenn alles ausgereizt ist, besteht der zusätzliche Kick darin, Grenzen zu überschreiten. Der Kick durch Kinder zum Beispiel! Nur zwanzig Prozent der Täter sind pädosexuell, die übrigen Täter haben andere Motive. Wir haben in unserer Gesellschaft ein Problem: Kinder werden in Deutschland gern übersehen. Manchmal werden Gesetze zuungunsten der Kinder ausgelegt, zum Beispiel was das Essensgeld von Kindern aus Hartz-IV-Familien in der Corona-Zeit betrifft. Da streiten wir dann wie die Kesselflicker.
Wie kooperieren die einzelnen Kinderhilfsorganisationen miteinander? Man hat den Eindruck, dass es oftmals eher um Profilierung geht anstatt um Ergebnisse?
So ist es, leider, ich bedaure das auch! Manchmal wird einem sogar am Lack gekratzt, wenn der andere einen Treffer landet, den man selbst nicht erkannt hat. So wirft man mir vor, ich hätte auf Strafverschärfung gedrängt, obwohl das nichts bringe. An einer Stellschraube muss man aber beginnen! Die Arbeit anderer schlechtzureden, hilft der Sache nicht. Sinnvoll wäre es, die Spezialisierungen zu erkennen und einander die Hand zu reichen.
Der Ruf nach mehr Geld für den Kinderschutz wird laut. Wie wird dieses Geld verwaltet?
Klar ist, dass die Verwaltungsausgaben des öffentlichen Dienstes deutlich höher sind als die von Vereinen. Zynisch gesagt: Unserem Verein Kinderhilfe e. V. würde man die Gemeinnützigkeit aberkennen, wenn wir derart hohe Ausgaben hätten. Aber auch in den Vereinen selbst muss Korrektur geübt werden. Man braucht keinen fünfköpfigen Vorstand, zwei tun’s auch. Auch das Spendensiegel als Zertifikat braucht man nicht unbedingt, denn es verschlingt Geld, das wir den Kindern zukommen lassen könnten. Wir machen uns selbst transparent und das Finanzamt überprüft uns.
In Deutschland engagieren sich zehnmal mehr Menschen für den Tierschutz als für Kinder. Sind Kinder die schlechteren Kuscheltiere?
Tiere sind bequemer. Man kann sie anschaffen und wieder abschaffen; mit Kindern ist das etwas schwieriger. In der heutigen Zeitverdichtung bleibt kaum Raum für Kinder, zumal Frauen aufgrund von Karriereanforderungen immer später gebären.
Kindesmissbrauch erscheint als unglücklicher Begriff, da er einen legitimen Gebrauch insinuiert. Fast überall wird sprachpolitisch korrigierend eingegriffen – siehe Neuprägungen wie LGTBQ. Weshalb geschieht das nicht, wenn von Gewalt gegen Kinder die Rede ist?
Wir haben eine stark bagatellisierende Sprache, die eigentlich eine Tätersprache ist. Das beginnt beim Begriff Kindesmisshandlung, der eine Behandlung voraussetzt. Diese Formulierung wird alltagssprachlich anders verstanden als juristisch. Gemäß §225 StGB handelt es sich eine besonders schwere Form von Gewalt, die über einen längeren Zeitraum ausgeführt wird und besonders quälend ist. Da wird verbrannt, verbrüht, verätzt, und man nennt das verharmlosend Misshandlung!
Sexuelle Gewalt gegen Kinder führt zum besonders lauten Aufschrei, wenn es sich um extreme Fälle handelt: glamourös wie im Fall Epstein oder prekär wie in Münster. Ist die Skandallust immer noch größer als der Wunsch nach Veränderung?
Ja, ich glaube, das ist menschenimmanent. Die Zuschauerperspektive erleichtert den Umgang mit Veränderung.
Regelmäßig wird betont, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder in allen gesellschaftlichen Kreisen vorkomme. Spielt Klassismus keine Rolle?
Gerade sexuelle Gewalt geht durch alle Schichten: Bauarbeiter, Putzfrau, Lehrer, Ingenieur. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand auffliegt, ist bei weniger Gebildeten allerdings höher. Und: Gebildete haben bessere Anwälte.
Wäre „Restorative Justice“, eine Art „Wiedergutmachungsverfahren“, nicht dem Kindeswohl zuträglicher als eine Verschärfung der Strafen?
Das mag widersprüchlich klingen, da ich auf härtere Strafen gedrängt habe: Ich selber habe Zweifel an unserem System der Bestrafung. Ich halte mehr von Ausgleich, da, wo es möglich ist. Ich favorisiere zum Beispiel eine materielle Entschädigung für Therapieleistungen. Die deutsche Justiz sollte sich mit diesen Ansätzen mehr befassen.
Ist eine Aussöhnung zwischen Täter und Opfer möglich?
Das ist eine Frage von Bildung und Zeit. Höhergebildete können das Geschehen und den Rachegedanken meist besser reflektieren. Es ist aber auch eine Frage des Zeitpunktes. In meinem Fall hat es bis zum Tod meiner Eltern gedauert, bis ich mich mit ihnen versöhnt hatte.
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