Marie-France Hirigoyen hat soeben eine psychotherapeutische Sitzung beendet. Sie ist routiniert im Umgang mit Skype-Gesprächen. Die meisten Patienten konsultieren sie im Lockdown virtuell. In Frankreich gilt die Psychiaterin als Spezialistin für narzisstische Persönlichkeitsstörungen. In ihrem in diesem Frühjahr erschienenen Buch Die toxische Macht der Narzissten und wie wir uns dagegen wehren (C.H. Beck) analysiert sie eine weitverbreitete Pathologie unserer Zeit. Ein Gespräch über die zerstörerische Macht perverser Narzissten, ihre perfiden Strategien und die Frage, welche Rolle der Feminismus im Kampf dagegen spielen könnte.
der Freitag: Narzissten, so weit das Auge reicht. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen, Frau Hirigoyen?
Marie-France Hirigoyen: Es gibt ganz klar einen Zusammenhang zwischen unserem kapitalistischen System und dem massiven Auftreten von Narzissten. Unsere leistungszentrierte, auf Konsum und Profit ausgerichtete Gesellschaft befördert die Gier. Narzisstische Wesenszüge werden zudem durch die allgegenwärtige Ich-Bezogenheit verstärkt.
In Ihrem Buch beschreiben Sie fast ausnahmslos narzisstische Politiker. Gibt es auch narzisstische Politikerinnen?
(lacht) Ja, aber man sieht sie weniger, sie stehen meist in zweiter Reihe. Auch die Frauen von Tyrannen sind oftmals narzisstisch. Sie tun sich mit ihresgleichen zusammen, um ihr Bedürfnis nach Macht besser ausleben zu können. Wenn Narzisstinnen an vorderster Front stehen, dann vor allem, weil sie männliche Verhaltensmuster kopieren. Margaret Thatcher zum Beispiel hatte ein sehr männliches Gebaren. Angela Merkel hingegen ist überhaupt nicht narzisstisch. Sie stellt ihr Äußeres nicht in den Vordergrund. An der Macht blieb sie, weil sie sich selbst treu geblieben ist.
Für ihre Partnerinnen sind perverse Narzissten besonders gefährlich. Wie äußert sich diese Bedrohung?
Ein perverser Narzisst ist jemand, der einen Partner sucht, um seine Mängel zu kompensieren. Man muss sich diesen Menschen wie eine leere Hülse vorstellen, als jemanden, der ständig Theater spielt. Er nistet sich in der Psyche seines Opfers ein, um sich selbst durch die Vernichtung des anderen zu erhöhen. Je mehr er sein Opfer erniedrigen kann, desto wichtiger und größer fühlt er sich. Gefährlich sind perverse Narzissten vor allem, weil sie perfekte Verführer sind und sehr angepasst auftreten. Diese Maskerade hat aber ein Ende, sobald sie ihre Opfer gänzlich vereinnahmt haben. Dann gehen sie ganz skrupellos vor, weil sie keinerlei moralische Beschränkungen kennen. Sie haben überhaupt keine Empathie, sind aber durchaus in der Lage, ihrem Umfeld Empathie vorzuspielen.
Wie gelingt es ihnen, ihre Opfer zu unterwerfen?
Zu Beginn greifen sie das Selbstwertgefühl an. Der Andere wird für alles Ungute, für alles, was nicht funktioniert, verantwortlich gemacht, bis er selbst daran glaubt. Hinzu kommt, dass perverse Narzissten eine hervorragende Intuition haben, die ihnen ermöglicht, die Schwachstellen ihrer Zielobjekte rasch zu erkennen. Auf geschickte Weise verunsichern sie den Anderen, sodass der an sich selbst und seiner Wahrnehmung zu zweifeln beginnt und sich selbst an allem die Schuld gibt.
Zur Person
Marie-France Hirigoyen, Jahrgang 1949, praktiziert als Psychoanalytikerin in Paris. Die promovierte Medizinerin befasst sich als Autorin mit seelischer Gewalt im Allgemeinen und Psychoterror im Besonderen. Ihr Buch Die Masken der Niedertracht von 1999 ist ein internationaler Bestseller
Hat Narzissmus geschlechtsspezifische Ausprägungen? Frauen wird ja nachgesagt, sie seien besonders eitel ...
Eitelkeit ist nur ein geringer Teil des Narzissmus; darin liegen Männer und Frauen in etwa gleichauf. Nehmen Sie aber das Beispiel Harvey Weinstein, weiß Gott kein Ausbund an Schönheit. Seine Verführungskraft bestand in Macht und Geld. In Amerika gibt es viele Studien zum Thema Narzissmus, zumal dieser dort noch stärker grassiert als in Deutschland oder Frankreich. Man stellte einhellig fest, dass Männer in puncto Machtstreben oder Überheblichkeit deutlich narzisstischer sind als Frauen. Frauen zweifeln stärker an sich selbst, an ihrem Äußeren, aber auch an ihren Fähigkeiten. Ein echter Narzisst aber zweifelt nicht an sich.
Welche Beute sucht sich ein Narzisst?
Opfer sind meist Menschen, die das Sicherheitsgefühl zu schätzen wissen, das ihnen Narzissten zu Beginn einer Beziehung vermitteln. Das ist aber ein trügerischer Schutz, den der Narzisst bietet. Es geht ihm ausschließlich um seine eigene Überlegenheit.
Wählt ein Narzisst eher starke oder schwache Frauen aus?
Narzissten wählen gern Frauen aus, die ihr Ansehen erhöhen. Das sind starke Frauen mit charakterlichen Eigenschaften, die der Narzisst nicht besitzt. Ein Narzisst ist besessen von Neid und Missgunst, was sich nicht nur auf Materielles bezieht, sondern auch auf innere Werte. Seine Vernichtungsstrategie setzt ein, sobald sich die Frau seiner wahren Absichten bewusst wird.
Wie kann man zwischen wohlwollender und böswilliger Verführung unterscheiden? Jedem Anfang wohnt doch ein Zauber inne.
Eine narzisstische Verführung ist keine gewöhnliche Verführung; sie spielt oft mit der Opferrolle. Zum Beispiel wird ein Mann behaupten, seine Ex habe ihn schlecht behandelt. Deshalb müsse sich seine jetzige Frau besonders um ihn kümmern; er aber wird im Gegenzug kaum die Bedürfnisse der neuen Frau berücksichtigen. Oder er führt etwaige berufliche Misserfolge auf Intrigen zurück. Keinesfalls sieht er sich selbst verantwortlich für seine Niederlagen.
Funktioniert die Täter-Opfer-Umkehr tatsächlich immer noch, trotz aller Aufklärungsaktionen?
Diese Umkehrung ist charakteristisch für Fälle von Gewalt. Gewalttäter machen immer ihre Opfer verantwortlich für Gewalt. Der Mann gebärdet sich als Opfer der Frau, die er schlägt. Gewalt habe er der Frau nur angetan, weil sie dieses Verhalten in ihm ausgelöst habe. Viele Frauen besitzen immer noch zu wenig Selbstvertrauen. Dadurch fühlt der perverse Narzisst sich motiviert, sie zu manipulieren. Diese Frauen widersetzen sich dann nicht, sondern lassen die manipulative Gewalt mit sich geschehen.
Gibt es auch den Fall, dass Opfer selbst verletzliche Narzissten werden?
Als Narzisst wird man nicht geboren, man wird es. Kinder, die keine Grenzen erfahren und von den Eltern vergöttert werden, neigen zum Narzissmus. Aber auch Opfer von psychischer, physischer oder sexueller Gewalt können Narzissten werden. „Verletzliche Narzissten“ sind vielleicht die einzigen Narzissten, denen wir Psychotherapeuten wirklich helfen können. Wenn wir ihre Traumata erkennen, ist es möglich, sie zur Einsicht zu bewegen. Dieser Typus Narzisst hat meist noch affektive Bindungen. „Grandiose Narzissten“ wie Trump oder perverse Narzissten wie Putin können wir jedoch nicht heilen, nur das Gesetz kann ihnen Grenzen setzen. Im Falle Weinsteins war das Gefängnis die einzige Möglichkeit, die Gefahr, die von ihm ausging, zu bannen.
Werden bestimmte Krankheiten durch die Erfahrung psychischer Gewalt ausgelöst?
Absolut. Opfer von Psychoterror können extreme Krankheitssymptome entwickeln. Ich habe zum Beispiel starke Gewichtsschwankungen erlebt bei Opfern, auch Allergien und Ekzeme treten auf. Sobald der Täter nicht in der Nähe ist, können diese Symptome komplett verschwinden. Der Körper spricht, wenn die Worte fehlen.
Was passiert mit den Kindern perverser Narzissten, entwickeln sie ähnliche Symptome?
Es gibt Kinder, die sich mit einem pervers-narzisstischen Vater identifizieren, aber auch Kinder, die zu Opfern werden. Bei Scheidungen werden Kinder oft von perversen Narzissten instrumentalisiert, da sie auch als Verlängerung des eigenen Ichs und als Vektor der eigenen zerstörerischen Kraft gesehen werden. Der perverse Narzisst fühlt sich als Sieger, wenn es ihm gelingt, die Kinder zu manipulieren und gegen das andere Elternteil aufzubringen.
Wie können Mütter vermeiden, perverse Narzissten heranzuziehen?
Indem sie ihren Kindern Grenzen setzen. Ein Kind zu erziehen bedeutet auch, ihm Respekt gegenüber anderen zu vermitteln und unangemessenes Verhalten zu sanktionieren.
Welche Rolle kann der Feminismus im Kampf gegen den Narzissmus spielen?
Grundsätzlich gilt: Männer sind narzisstischer als Frauen. Frauen sind aufmerksamer gegenüber ihren Mitmenschen, auch respektvoller. Die Zeiten wandeln sich jedoch. Immer mehr Männer nehmen weibliche Werte an. Frauen obliegt es zu zeigen: Die Welt funktioniert auch ohne Arroganz und Allgewalt.
Kommentare 10
Auch wenn ich bei dem Begriff 'toxisch' immer wieder neu zusammenzucke und hierzu:
„Es gibt ganz klar einen Zusammenhang zwischen unserem kapitalistischen System und dem massiven Auftreten von Narzissten. Unsere leistungszentrierte, auf Konsum und Profit ausgerichtete Gesellschaft befördert die Gier.“
ergänzend anmerken möchte, dass beide zwar wie Arsch auf Eimer zusammen passen, ich aber daraus keine Einbahnstraße machen würde = der Kapitalismus begünstigt sicher zu einem Teil das Auftreten der Narzisssmus, allerdings finden vor allem Narzissten die unterkühlten Funktionalismus des kapitalistischen Systems attraktiv und Narzissten gab es immer auch schon ohne die Mithilfe des Kapitalismus – so finde ich das Interview gut, der Inhalt ist richtig und das Thema muss ímmer wieder ventiliert werden, damit die Struktur des Narzissmus, das was ihn wirklich ausmacht, in der Breite erkannt wird.
Das ist ein wesentliches Element, damit unsere Welt besser wird!
Ein Blog zum Thema Narzissmus ohne Definition von Narzissmus?
Die Autorin scheint gefallen zu wollen und entlarvt sich selbst: »„Grandiose Narzissten“ wie Trump oder perverse Narzissten wie Putin können wir jedoch nicht heilen.«
Eine seriöse Person, eine Psychotherapeutin zumal, würde derlei Kalauer vermeiden. Er wird hier als „Schmähbegriff“ verwendet und bedient eine primitive Unart der Gegenwart, nämlich das Bashing. Das Bashing von Trump (selbstverständlich), das Bashing von Putin, das Bashing von Russland, das Bashing von China, von Polen von Orban, von usw. und von etc.
Ganz offensichtlich: „Sie ist routiniert im Umgang mit Skype-Gesprächen.“
Ja, die narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS), deren Prävalenzrate auf ein Prozent der Bevölkerung geschätzt wird gilt als besonders kulturabhängig und wird vor diesem Hintergrund im ICD-10 auch nicht als eigenständiges Störungsbild aufgeführt.
Narzissten begeben sich wg. ihres Narzissmus nicht in Psychotherapie, weil sie selbst „nicht leiden“, sondern andere leiden lassen. Ausnahme: Es haben sich Komorbiditäten eingestellt. Sinnvoll wäre zudem, von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen zu sprechen, denn auch die narzisstische Persönlichkeit hat hinsichtlich der Symptomausbildung eine dynamische Spannweite.
Korrektur:
Nicht die Autorin, sondern Marie-France Hirigoyen scheint gefallen zu wollen und entlarvt sich selbst: »„Grandiose Narzissten“ wie Trump oder perverse Narzissten wie Putin können wir jedoch nicht heilen.«
Echt jetzt? Eine pathologische Störung, eine psychische Erkrankung und das kapitalistische System als Bedingung und Verstärker. Und Frauen eher in zweiter Reihe oder neben narzistischen Männern. Es gibt wohl keine Steigerung für "eindimensional"?
Meine geschiedene Frau ist Narzistin, unsere gemeinsame Tochter auch. Die Ex-Chefin meiner jetzigen Frau zeigt alle Verhaltensweisen von Narzismus...
Sobald in Unternehmen nicht mehr Männer Männer befördern, werden die Narzistinnen durchstarten. Und wir dürfen heute schon Narzist:innen schreiben.
Die Prävalenzrate der narzisstischen Persönlichkeitsstörung liegt bei ca. einem Prozent. Das ist die Dimension, über die wir uns hier unterhalten.
Zugenommen hat der Populismus auch sogenannter Experten, gezielt Rufmord zu betreiben und dafür Ferndiagnosen zu stellen: »„Grandiose Narzissten“ wie Trump oder perverse Narzissten wie Putin …«
Ich denke, solche Leute gehören selbst zu den selbstverliebten Exemplaren dieser Gesellschaft.
Ein Hoch auf die - wenn auch unabgesprochene - Arbeitsteilung.
Sie haben mir eine Menge Arbeit an dieser Stelle abgenommen und meine Blutdruckwerte des Tages stabilisiert. Lieben Dank dafür.
Ich gehöre im Übrigen zu Jenen, die ein bescheidenes Maß an Selbstverliebtheit befürworten - und praktizieren. Und stelle mir oft die Frage, ob die vermeintlichen Narzissten nicht eher SELBSTHASSER sind, den sie am Gegenüber abreagieren. Trump etwa würde prächtig dazu passen.
Noch eine kurze, lästige Frage zum Abschluss: wo haben Sie die Zahl 1% her? Pi mal Daumen - oder 'ordentliche' Quelle?
Ich zweifle daran, dass Ihr Szenario im Großen eintreffen wird.
Irgendwann (wenn nicht morgen, dann übermorgen) werden auch Frauen feststellen, dass die Karriereleiter nicht der einzige (falls überhaupt) 'Stairway to heaven' ist.
Zu Ihrer persönlichen Erfahrung: Hallo, Seelenbruder.
Nein - nicht "Pi mal Daumen"
Man kann das ganz einfach ergooglen: >> „Prävalenz der narzisstischen Persönlichkeitsstörung“
»Die toxische Macht der Narzissten« im Übrigen auch.
Danke für die Mühen, die ich Ihnen machen durfte.
Mit dem Googeln haben Sie so etwas von Recht. Als Hedonist der alten Schule bin ich stinkfaul und undiszipliniert. Ihr Zuspiel unterstützt das.
Was die Bücher der Autorin angeht: JA. Das Erste habe ich, habe es sogar gelesen und meiner Tochter zum letzten Geburtstag geschenkt. Mit väterlicher Liebe - und Sorge zugleich.
Ich bin des Öfteren mit Narzissten aneinandergeraten und kann die Ausführungen nur bestätigen. Das Problem kann sein, dass man sich psychisch von ihnen abhängig macht, und da glaube ich, die Narzissten wollen mehr, als dass man sie nur zur Kenntnis nimmt und sind in den ersten Wochen auffällig lieb zu einem. Bis man merkt, welche Ziele sie damit verfolgen, kann es meist zu spät sein (oder man bekommt die Konsequenzen zu spüren, wenn man sich gegen sie behaupten will/muss), und leider habe ich noch kein Patentrezept gefunden, wie man sich von ihnen eben nicht abhängig macht. Das perfide ist unser Wunsch nach Nähe und Bindung, weil wenn man Narzissten an der Backe hat, kann dieser Wunsch zum Albtraum werden.