Das Soho House in Berlin-Mitte. Der Sänger Alice Cooper rauscht in charmanter Begleitung durch die Lobby. Zimmer Nummer 34. Charlotte Gainsbourg macht es sich auf dem Boden bequem und überlässt mir das schwere Samtsofa.
der Freitag: Frau Gainsbourg, der Titel Ihres neuen Albums „Rest“ spielt mit einem Widerspruch: Im Französischen heißt „Reste!“ „Bleib!“, gleichzeitig denkt man an das englische „Rest in peace“. Paradoxien und Widersprüche – gehen Sie so mit der Vergangenheit um?
Charlotte Gainsbourg: Nostalgisch bin ich auf jeden Fall. Ich weiß aber auch, dass ich die Vergangenheit idealisiere, bin also misstrauisch gegenüber meiner eigenen Wahrnehmung. Paradoxien reizen mich definitiv. Meine Stimme
enüber meiner eigenen Wahrnehmung. Paradoxien reizen mich definitiv. Meine Stimme wollte ich unbedingt mit den horror tracks aus meiner Kindheit verbinden: eine sanfte Stimme und etwas Furchterregendes. Der Widerspruch als Gestaltungsprinzip hat sich dann besonders im Song Les Oxalis herauskristallisiert. Die Lyrics handeln von einem Spaziergang auf einem Friedhof, ich dachte an meine verstorbene Schwester, die Musik aber ist leicht, ein Disco-Sound. Ich wollte keine traurige Platte mit dramatischer Musik und depressiven Texten, sondern Balance.Woher kommt es, dass Sie nach Gleichgewicht streben, aber den Widerspruch genießen?Nun, ich bin Schauspielerin, war aber immer sehr schüchtern. Ich kam als Kind überhaupt nicht mit meinem Äußeren klar, fand mich hässlich, hatte richtig die Nase voll von mir. Irgendwann fing ich an, mir unangenehme Situationen zu genießen. Vor allem Lars von Trier hat mir mit seinen Filmen gezeigt, wie man Vergnügen an der Provokation und am Ausloten der eigenen Grenzen finden kann. Plötzlich gefiel es mir, Dinge zu tun, die ich mir im Traum nicht hätte vorstellen können. Ich genoss es, aufzufallen.Als Kind waren Sie furchtsam. „Immerzu ängstlich“ heißt es in einem Song. Wovor fürchteten Sie sich denn?Vor dem Ende der Kindheit. Ich litt sozusagen unter dem Peter-Pan-Syndrom, wollte nicht erwachsen werden. Ich dachte immer, meine Familie sei unbesiegbar, unsterblich. Mit dem Tod war ich erstmals mit fünf konfrontiert, als meine beste Freundin starb. Als Kind begreift man das nicht. Als unsere Hündin Nana starb, erlebte ich meinen Vater am Boden zerstört. Mir wurde der Verlust erst ein Jahr später klar. Ich heulte, war untröstlich. Die Kindheit hat etwas Seltsames. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass die Erwachsenen mit den Kindern damals nicht redeten.Wie war das bei Ihnen zu Hause?Sehr streng: Es gab strikte Regeln, Ellbogen nicht auf den Tisch beim Essen, extreme Höflichkeit gegenüber Bediensteten. Meine Mutter war lockerer, mein Vater war wirklich superstrikt, trotz seiner Verrücktheiten, seiner Exzentrik. Manchmal war das verwirrend für uns Kinder. Wir wagten kaum zu fluchen. Wenn ich dann aber mince (Mist) sagte statt merde (Scheiße), sagte mein Vater: „Das heißt merde. Merde, nicht mince!“Placeholder infobox-1Womit wir wieder bei Widersprüchen wären.Ja, da sind wir uns sehr ähnlich. Mein Vater hatte eine ganz klare künstlerische Linie, er war mein Leitstern, mein Coach. Es war so schwer für mich, einen eigenen Stil zu finden. Ich schreibe ja erstmals französische Texte, vorher immer ein bisschen eigenwillige englische. Wir sprachen ja Französisch zu Hause, auch meine Mutter, die die Sprache damals lernte. Meine Mutter las zwar meine englischen Texte durch, aber letztlich hab ich mir da mein eigenes Süppchen gekocht.Ihr Vater stammt aus einer jüdischen Familie. Gab es da auch Rituale, Regeln?Meine Großmutter war eine russische Jüdin mit einem starken Akzent. Sie war aber geradezu antireligiös. Sie hat überhaupt keinen Anspruch auf das Judentum erhoben. Bei meiner Großmutter mütterlicherseits war das anders. Sie hatte ein zärtliches Verhältnis zur Church of England. Als meine Großmutter väterlicherseits starb, verspürte ich aber das Bedürfnis, etwas wiederzubeleben, obwohl ich nicht religiös erzogen worden war. Ich ging ganz allein in die Synagoge, zündete Kerzen an, aß koscher, na ja, kein Schweinefleisch zumindest. Mein Vater schenkte mir sogar einen Davidstern, obwohl er das alles für absurd hielt: Meine Mutter ist schließlich keine Jüdin, ich also auch nicht.Wonach suchten Sie?Ich habe mir da meine eigene Welt erfunden, eine falsche, unwahre Welt gezimmert. Als mein Vater starb, warf ich alles über Bord. Es hatte keinen Sinn mehr, vorher hatte ich ja geglaubt, die Religion würde mich beschützen, vor dem Schlimmsten bewahren. Und dann lernte ich Yvan kennen, einen Monat nach dem Tod meines Vaters.Sie waren damals 19.Es ging alles sehr schnell. Wir zogen zusammen. Seinen Eltern stellte er mich aber erst nach Monaten vor. Es war ihm irgendwie peinlich. In seinem Elternhaus habe ich dann erfahren, was Religion bedeutet. Die Riten, die Feste, auch das Essen. Yvans Mutter ist eine begnadete Köchin. Ich kannte ja von meiner Großmutter nur Borschtsch, gehackte Leber, Piroschki. Heute sehe ich das mit mehr Distanz. Was Religion betrifft, nun, da mime ich halt mal Interesse. Meine Kinder hingegen sind der Religion sehr verbunden und das freut mich total für sie.Das klingt sehr tolerant. Sobald aber von Religion, speziell vom Judentum, die Rede ist, bewegt man sich auf dünnem Eis. Was sagen Sie eigentlich zu Karl Lagerfelds provokanter Bemerkung: „Man kann nicht (...) Millionen von Juden töten, um danach Millionen ihrer schlimmsten Feinde kommen zu lassen“?Also als Aggression empfinde ich Lagerfelds Äußerung nicht. Ich habe den Gedanken immer verweigert, dass es in Frankreich Antisemitismus geben könnte. Yvan hat mir die Augen geöffnet. Man muss schon ein wenig Angst haben. Antisemitismus gibt es ganz offensichtlich. Die Situation ist schwer zu meistern. Ich selbst bin da vielleicht ein wenig naiv, kenne weder den Islam noch den Koran. Israel erfährt eine starke Zurückweisung. Israel, so ein kleines Land! Man fragt sich wirklich, weshalb!Ihr Lebenspartner Yvan Attal ging das Thema in seinem letzten Film „Sie sind überall“ humorvoll an.Ich fand das sehr mutig von ihm. Wirklich zeitgemäß! Aber ich habe Schwierigkeiten, darüber zu sprechen. Antisemitismus, sexuelle Belästigung ... Man wirft alles in einen Topf. Das wird leicht verzerrt. Die Presse greift sich dann ein Wort heraus und schon gibt es eine schockierende Schlagzeile. Das macht mir ein bisschen Angst.Schlagzeilen machte auch Ihr erstes Lied, das Sie als 13-Jährige mit Ihrem Vater aufnahmen: „Lemon Incest“. Es ist ein Spiel mit dem Thema Inzest, 1985 verursachte es einen Skandal. Finden Sie, dass Ihr Vater zu weit ging?Nein, überhaupt nicht. Ich konnte das singen, da es wirklich nichts Irritierendes zwischen uns gab. Wenn irgendetwas vorgefallen wäre, wenn mich etwas verstört hätte, wenn etwas zweideutig gewesen wäre, dann hätte ich schockiert sein können. Dem war aber nicht so. Ob ich das gut fand, weiß ich nicht, aber ich wusste nicht einmal, worin die Provokation bestand. Ich fühlte mich total beschützt. Als der Song herauskam, war ich in der Schweiz im Internat. Vom Skandal selbst habe ich erst später etwas mitbekommen, als ich Das freche Mädchen drehte.Glauben Sie, dass Derartiges heute noch möglich wäre?Ich hoffe es! Es ist unheimlich wichtig, dass es keine Zensur in der Kunst gibt. Ich finde es schrecklich, wenn Künstler Angst haben müssen. Es verläuft freilich nur ein schmaler Grat zwischen Kunst und dem, was jenseits der Kunst liegt. Heute schert man alles über einen Kamm und keiner traut sich mehr, etwas zu sagen. Ich denke da an Dieudonné, der sehr tendenziöse und schockierende Sachen sagt. Was er macht, ist keine Kunst, das ist Politik. Pierre Molinier hingegen, man könnte sagen, das sind pornografische Fotos, aber nein, das ist Kunst. Ich finde es wirklich nützlich, die Grenzen zu verschieben und die Leute zu schockieren.Pfeifen Sie auch in Ihrem Privatleben auf Konventionen? Mit Yvan Attal haben Sie drei Kinder, sind aber nicht verheiratet. Wenn ich „Deadly Valentine“ höre, habe ich das Gefühl, dass Ihnen die Institution Ehe unheimlich ist. Ich bin ziemlich abergläubisch, was die Ehe betrifft. Yvan und ich haben uns gemeinsam entwickelt. Es ist eine Art Verschmelzung. Jetzt, wo wir zwischen New York und Paris pendeln, empfinden wir beide eine tiefe Sehnsucht. Wir besuchen uns gegenseitig so oft wie möglich. Sehnsucht ist so wertvoll. Liebe ist so unvorhersehbar, aber unsere Sehnsucht ist wohl auch der Grund dafür, dass wir noch zusammen sind.Lust auf ein Wortspiel?Charlotte Gainsbourg nickt, blickt neugierig zu mir auf. L. O. V. E. Welchen Begriff verbinden Sie mit den einzelnen Buchstaben?Oh, das ist schwer. L – Loyalität, würde ich sagen, oder ... Sie zögert. ... bin nicht ganz sicher. O – odeur (Geruch). Wir lachen beide. V – vénérer (verehren). E – Energie.Haben Sie Angst, dass Ihr Leben einmal völlig aus dem Gleichgewicht geraten könnte? Wie in Dominik Molls Film „Lemming“, als dieses Tier das Leben von zwei Paaren ins Chaos stürzt?Nein, ich lebe gern mit Unsicherheiten. Alles, was mir früher Furcht eingejagt hat, sehe ich heute positiv. Ich plane nichts, mag das Unvorhersehbare, außer vielleicht, was Kleidung betrifft. Sie zeigt auf ihre schwarze Bluse, die schwarze Jeans, die Schuhe. Ich trage gern eine Art Uniform, ganz einfach, weil ich keine Lust habe, dass mir die Qual der Wahl das Leben zerfrisst. Nicht etwa, weil ich mich verstecken möchte oder irgendwie berechnend wäre.„Je suis venu te dire que je m’en vais …“ (Ich komm, um dir zu sagen, dass ich geh) singt Ihr Vater in einem seiner bittersüßen Lieder – haben Sie diese Worte schon einmal ausgesprochen?Nein, niemals. Ich habe auch niemals jemanden verlassen. Yvan habe ich ja sehr früh kennen gelernt, hatte also auch nicht so viele Liebesgeschichten. Ich bin eigentlich immer verlassen worden. Na ja (sie lacht), obwohl ...
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