Verirrte Wörter

Literatur Delphine de Vigan erzählt davon, wie Sprache und Leid verquickt sind
Ausgabe 13/2020
Die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan
Die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan

Foto: Joel Saget/AFP/Getty Images

Mit den Wörtern verhält es sich wie mit dem Schmerz: Sie verschwinden endgültig erst mit dem Tod. Der Gedanke, dass Gras über eine Sache wachsen könne, dass der Schmerz sich verflüchtigen könnte, ist trügerisch. Solange es Wörter für das Leiden gibt, ist es existent. Der neue Roman der 1966 geborenen französischen Schriftstellerin Delphine de Vigan ist ein Buch über die Suche nach dem verlorenen Wort.

Michka, in deren Leben sich alles um das Wort drehte, die als Lektorin die Sprache der anderen verbesserte, leidet unter Aphasie. Sie vergisst Begriffe, ersetzt sie durch andere, wohl wissend, dass am Ende das sprachliche Niemandsland droht. Zunehmend verliert sie ihre Selbstständigkeit, wird gequält von Unsicherheit. Ihre Ziehtochter Marie bringt Michka schließlich in einem Seniorenheim unter. Die Eintönigkeit dieses Lebens wird lediglich durch die Besuche Maries und die Übungsstunden mit dem Logopäden Jérôme unterbrochen. Je stärker die Sprachstörung fortschreitet, desto mehr verspürt Michka das Bedürfnis, ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. Dank möchte sie einem Ehepaar sagen, das sie als kleines jüdisches Kind vor den Häschern des Vichy-Regimes versteckt hatte. Es ist ein Lauf gegen die Zeit ...

De Vigans Buch trägt wie auch schon der vorige Band Loyalitäten einen Titel im Plural: Dankbarkeiten. Im Gespräch befragt nach dieser ungewöhnlichen Wahl der Mehrzahl, meint die französische Schriftstellerin, sie wolle die Komplexität des Begriffs „Loyalitäten“ erfassen. Der Vielschichtigkeit des Begriffs „Dankbarkeiten“ versucht sie nun in ihrem neuen Buch auf die Spur zu kommen. Von der moralisierenden, katholisch anmutenden Aufforderung, Dank als Ausdruck von Anerkennung, ja Schuld zu begreifen, entfernt sie sich immer mehr. Dank wandelt sich in ein inneres Bedürfnis, in das Wesensmerkmal alles Lebendigen. Wer dem Leben den Dank versagt, ist bereits erloschen. De Vigans Buch ist ein Plädoyer für ein „merci, chéri“, das man äußern sollte, bevor es zu spät ist.

Der Tag, an dem das Schweigen siegt, nähert sich unweigerlich. Gleichbedeutend ist er mit Hoffnungslosigkeit. De Vigan bringt diese mit einem göttlichen Wortspiel zum Ausdruck. Michka vergisst den Begriff „danke“ und ersetzt ihn durch „dante“. Da steht sie also vor dem Höllentor und sieht wie in der Göttlichen Komödie geschrieben: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.“

Trotz der Unvermeidbarkeit des Todes und der Pein der Sprachlosigkeit ist Dankbarkeiten kein trostloses Buch. Die Reise in die Finsternis führt durch sprachliche Gefilde, die einem nicht selten ein Lächeln entlocken. Finden Sie den Oberbegriff für „Antiquitätenhändler, Schallplattenhändler, Buchhändler, Möbelschreiner“, fordert Jérôme Michka auf. „Das Verschwinden“ lautet ihre Antwort. Das ist der Basso continuo des Buches: schwarzer Humor gepaart mit einem spielerischen Perspektivwechsel. Michkas Aphasie zeigt sich in Wortspielereien, die schelmisch und subversiv wirken. Auch Zerbrechlichkeit und Sanftheit glaubt Jérôme im Sprachwandel seiner Patienten zu erkennen: „Ich empfinde Zärtlichkeit für ihre verzerrten, ungenauen, verirrten Wörter und für ihr Schweigen.“

Was, wenn wir Wirklichkeit sprachlich neu besetzen, wenn wir Michkas Ausweglosigkeit als Chance sehen, unsere Sprachfähigkeit als Geschenk und Verpflichtung zugleich zu begreifen? Ist man sich dieser Handlungsmacht erst einmal bewusst, dann wandelt sich auch das Verhältnis zum Leid.

Die neunundneunzigjährige blinde, schwerhörige Retterin der kleinen Michka antwortet auf die Frage, wie sie drei Jahre Furcht vor der Denunziation ertragen habe: „Zum Schlimmsten sagt man Nein. Und danach hat man keine Wahl mehr.“

Info

Dankbarkeiten Delphine de Vigan Doris Heinemann (Übers.), DuMont Buchverlag 2020, 165 S., 20 €

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Ute Cohen

"Intelligenz lähmt,schwächt,hindert?:Ihr werd't Euch wundern!:Scharf wie'n Terrier macht se!!"Arno Schmidt

Ute Cohen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden