Mit der Freiheit verhält es sich wie mit der Liebe: Sie verspricht ein großes Abenteuer, meistens hängen wir aber lieber an den Lippen derer, die Geheimnisse zu lüften und kühn das Tor zur Freiheit aufzustoßen wagen. Das geheime Frankreich. Geschichten aus einem freien Land kündet davon. Sein Autor, Nils Minkmar, stammt aus Saarbrücken, er hat einen deutschen Vater und eine französische Mutter. Ist er also ein Feuilleton-Tintin, der uns durch die geheimen Winkel des Hexagons, die Intrigen des Elysée-Palastes geleitet? Das erste Kapitel Der verborgene Saal kitzelt die Nerven. Hinter der lichtdurchfluteten Ordnung befinden sich Kammern, die das dunkle Frankreich, die Mächte des Schattens verbergen. Auf diese bizarre Spur kam der Autor im
Spur kam der Autor im Naturhistorischen Museum in Bordeaux. „Paradoxe Monster“, „Ziegen mit sechs Beinen“ in Formol bekam Minkmar als Kind da zu Gesicht, sodass es ihm den Appetit verschlug, die Abenteuerlust im Keim erstickte. Zu Recht konstatiert Minkmar die französische Dialektik aus Regeln und anarchischer Tendenz. Genuss paart sich zwar mit Regeln, ist in Minkmars Frankreich-Bild jedoch klar der Norm untergeordnet.Freiheit – blitzt bei diesem Begriff nicht sofort eine barbusige Marianne mit Fackel und phrygischer Mütze auf? Minkmars Freiheitsbegriff verhält sich dazu wie ein Bifteak à point zum Steak saignant: „Der Strand ist die Heimat der Freiheit, praktizierte Anarchie.“ Personifiziert sieht der Autor die Freiheit in seinem Großcousin, einem in Südfrankreich lebenden Lehrer, der mit dem Motorrad durch die Provinz fährt, Krimis schreibt. Im Seismografen unserer Zeit, Michel Houellebecq, sieht Minkmar stattdessen nur einen „abgerockten“ Typen, der sein Rezept gefunden hat.Listige Verdrossenheit kommt in Minkmars Frankreich nicht vor, vom zweiköpfigen Kalb und dem „Schnippchen, das man, in der Gemeinschaft der Tafelnden, der organisierten Nekrophilie schlägt“ mal abgesehen. Das Hexagon ist wie Tim und Struppi in zartem Pastell mit klarem Strich gezeichnet. Während Sylvain Tesson, dessen Auf versunkenen Wegen letztes Jahr erschien, Gallien zu Fuß durchwandert, auf „schwarzen Wegen“, die nur Eingeweihten und Desperados wie Tesson bekannt sind, erschöpft sich Minkmars Entdeckergeist in der strukturalistischen Analyse kulinarischer Symbolik und der Essgewohnheiten der Präsidenten (im Kapitel Das geheime Gasthaus). Minkmar stöbert mit Akribie im Notizbuch seines Großvaters, aus dem sein kulinarisches Itinerar erwächst. Prousts Madeleine ist Minkmars Lammhirn.Der Katholizismus samt doppelbödiger Moral und verbotener Lust regiert nach Minkmar noch heute das Land. Selbst die Gastronomie, das Lebenselixier der Franzosen, wird zu einer säkularen Religion mit heiligen Grand Cuisiniers hochstilisiert, anstatt diese vielleicht auch nur in ihrer disziplinierten Sinnlichkeit anzuerkennen. Das liegt wohl an Minkmars amour vache (einer Art Hassliebe) zur Freiheit. Einerseits ist er fasziniert vom Begriff, andererseits bleibt er bei der Dechiffrierung kommunikativer Konventionen stehen.Es ist ein sehr bourgeoises Bürgertum, ein Bürgertum, das sich am Adel orientiert, das da spricht. Von „mains baladeuses“ (wandernden Händen) anstatt sexueller Belästigung ist da die Rede. Es ist das Frankreich des ehemaligen Premierministers Edouard Balladur, der seine Gattin siezte und peinlich genau auf die Vermeidung von Fauxpas bedacht war, erstarrt in einem Korsett, das nicht eines gewissen Charmes entbehrt.Befreiung von den Verkrustungen und Kabalen der Politik erwartet sich der Autor von einer „feministische(n) Renaissance der Kultur und der Politik“. Das neue Zeitalter, die Ära der „Notre Dame“ dräue bereits: Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, Cynthia Fleury, eine Philosophin, die ihre Wissenschaft für therapeutische Zwecke zu nutzen weiß, und Bénédicte Savoy, eine Kunsthistorikerin (bekannt durch den Streit um das Humboldt-Forum), die die Erfahrung des „Überlebens in Berlin“ (sans ironie!) einbringe, sieht Minkmar als exemplarische Vertreterinnen.In diesem Kapitel bewegt sich Minkmar wie ein Fisch in der Seine: Er muss sich nicht mit den sexistischen Geschlechterrollen und dem „besorgniserregenden Verhalten“ eines Dominique Strauss-Kahn herumplagen, sondern darf sich ganz in einem genderkonformen Diskurs verankern.Es hat für viele sicher eine sentimentale Eleganz, mit der uns Nils Minkmar ein hübsch präpariertes Frankreich in Einweckgläsern serviert. Das verruchte, gärende, sich wandelnde Frankreich sucht man hier vergebens. Man müsste schon mit Michel Houellebecq in die Grotte schlüpfen und sich transhumanen Träumereien hingeben, um zu begreifen, dass in Frankreich trotz Jupiter-Macron nicht alles la vie en rose ist.Placeholder infobox-1