Eine Hommage, eine Hymne mag man erwarten, „radikal subjektive Liebeserklärungen“. So jedenfalls präsentiert der Kiwi-Verlag eine Reihe, in der sich Autoren mit ihren Lieblingsbands befassen. Helene Hegemann aber spielt uns einen Streich mit ihrem Essay über Patti Smith für die inzwischen auf 15 Bände angewachsene Musikbibliothek. Mit einer Lobrede dürfe man nicht rechnen, warnt die Autorin, schließlich empfinde sie eine „diffuse Genervtheit“ beim Gedanken an die amerikanische Sängerin. Das lässt Übles schwanen: hysterische Strukturlosigkeit, lethargisches Dahinplätschern. Bei Hegemann aber erweist sich die Reizung des zentralen Nervensystems als ungeheurer Vorteil: Der Text zittert, vibriert und legt eine direkte Erregungsleitung in das Gehirn des Lesers.
Was dann passiert, entzieht sich des Lesers Kontrolle. Hegemann treibt den Text wie einen Song von Patti Smith voran. In Horses heißt es: „Got to lose control and then you take control.“ Auf keinen Fall möchte Hegemann Gefahr laufen, Patti Smith zu einer Ikone zu stilisieren oder noch schlimmer zu einem „Maskottchen“ der Hochkultur. Es ist ihr schon genug, dass die Sängerin selbst „die Distanz zu dieser Gesellschaft restlos aufgegeben hat“. Wie es dazu kommen konnte, dass sich dieser anarchische Spirit in Guruhaftigkeit verwandelte, ist eine der Fragen, die Hegemann in diesem Band stellt. Die Vorgehensweise ist dabei nicht unähnlich dem Leitsatz von Carl Hegemann, Christoph Schlingensiefs Sparringspartner, Dramaturg und Vater der Autorin: „Nichts ist wahr ohne sein Gegenteil.“ Der Satz treibe sie zwar immer wieder „an den Rand des Wahnsinns“, und doch ist es ein Ort, der Helene Hegemann, Patti Smith und Christoph Schlingensief das Beste entlockt beziehungsweise entlockte.
Folgerichtig gibt sich die Autorin nicht mit Klischees zufrieden wie „Godmother of Punk“, wenn sie Patti zu erfassen versucht. Kurzcharakteristiken wie „eine Rocklegende aus New York, zwischen literarischem Punk und Ekstase und respektvoller Blasphemie unterwegs“ flicht Hegemann nur en passant ein, denn Etiketten sind trügerisch. So sagte Lenny Kaye, Pattis Gitarrist, selbst einmal, die Band sei nur „punk by association“ gewesen. Hart, schnell und laut ist Patti Smiths Musik nicht. Die „Godmother of Punk“ verdankt ihren Titel eher der Bewunderung für Arthur Rimbaud, dem französischen Dichter, Anarchisten und Urpunk, der zum Sturz der Regierungen aufrief und mit Kaffee, Gold und Waffen dealte. Diese Furchtlosigkeit hat ihren Sitz vielleicht tatsächlich am Rand des Wahnsinns, der sich von Zeit zu Zeit verrückt. Schlingensief hielt nicht nur seinen Arschfurunkel in die Kamera, sondern zeigte der Welt mit seinen Inszenierungen auch, „wovor sie Angst hat“. Patti Smith dagegen zeige der Welt, „dass man zu Angst ganz gut tanzen kann“. Neben dieser Angst existiert noch etwas anderes, und das zeigt uns Hegemann: eine Begierde, die sich aufbäumt und zähmt zugleich.
Helene Hegemann, die in prekären Verhältnissen lebte, die sich selbst verletzte, die sich trügerische, aber lebensnotwendige Fluchten erschuf, stürzte sich nach dem Tod der Mutter in ein neues Leben. „Life is full of pain, I’m cruising through my brain“, singt Patti Smith, und Helene Hegemann nimmt uns mit auf diesen Trip. Patti Smith ist dabei vor allem eine geistige Begleiterin, eine Art „spiritual animal“, das mal mehr, mal weniger lebendig durch die Prärie hoppelt. Patti ist eben auch nur ein Mensch, der Bob Dylan anbaggert „wie ein unterwürfiges Tierkind, aber glaubt, genug Grenzen eingerissen zu haben, um trotzdem das revolutionäre Bild der freigeistigen, unabhängigen Bestie bedienen zu können.“
Ein Widerspruch? Patti, Helene und Christoph im Chor: „You have to go beyond, beyond.“
Info
Helene Hegemann über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition Helene Hegemann KiWi-Taschenbuch 2021, 112 S., 10 €
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