Zunächst haben die Sicherheitskräfte bei den sozialen Protesten in Kuba mit Härte reagiert. Dann gab es ein Dialogangebot der Regierung, der bewusst sein dürfte, dass die Versorgungslage in den 1990er Jahren prekärer war als heute, doch auf mehr Verständnis stieß. Die Blockade des Internets, der Apagón, ist mittlerweile wieder aufgehoben.
der Freitag: Herr Guanche, was ist am 11. Juli auf Kuba tatsächlich passiert?
Julio César Guanche: Es gab Proteste in sechs der 15 Provinzen und an gut 60 Orten, die mehrere Tausend Menschen erfassten. Es zirkulieren zwar stark übertriebene Zahlen zu den Beteiligten, dennoch kam es zur größten Welle des sozialen Protests seit 1959. Es gab dann einen digitalen Apagón, der uns drei Tage ohne Internetzugang bescherte, sodass bis heute ein komplettes Bild fehlt, um erschöpfend zu wissen, was in jenen Tagen geschah.
Trifft zu, was vielfach kolportiert wird, dass es sich um die spontane Organisation eines spontanen Protests handelte?
Das Spontane bestand darin, dass es einen Kaskaden-Effekt gab, aber keine vorherige Agenda und keine Bewegung, die etwas organisiert hat. Natürlich gab es Aufrufe außerhalb Kubas, die vor allem zu Gewalt gegen Menschen anstachelten. Es sollten Polizeistationen angezündet und Menschen getötet werden, die sich als Revolutionäre zu erkennen gaben. Doch gibt es in Kuba eine enorme soziale Masse, die sich von solchen Aufrufen nicht beeinflussen lässt. Es ist ohnehin ein Fehler zu glauben, es gebe eine automatische Verbindung zwischen dem externen Einfluss und einem Volksaufstand. Wer das für möglich hält, ignoriert die interne Dynamik solcher Vorgänge, wie wir sie erlebt haben.
Fehlte es an Warnzeichen, dass es zu Problemen wie jetzt kommen würde?
Keineswegs, erst im November 2020 kam es zu einer friedlichen Sitzblockade von Intellektuellen vor dem Kulturministerium, die den Dialog mit der Regierung suchten. Doch dieser Weg einer Interaktion wurde nicht beschritten. Konkret ging es um die Abschaffung des Dekrets 349, das dem Staat das Recht über die Regulierung der künstlerischen Aktivitäten einräumt
Zur Person
Julio César Guanche, 47, ist Universitätsprofessor in Havanna und Autor mehrerer Bücher über die kubanische Gesellschaft. Sein Interesse gilt dem Kino und der Popkultur. 2019 war er zum Forschungsaufenthalt am Max-Planck-Institut in Frankfurt/M. eingeladen
Wo steht nach Ihrem Eindruck bei all dem die US-Administration?
Es gibt eine absolut zynische Ausnutzung der kubanischen Situation durch die USA. Ihre interventionistische Politik, besonders die Wirtschaftsblockade, spielte eine wichtige Rolle bei dem eingetretenen Szenario. Deshalb sage ich, dass der Ursprung der Proteste multikausal war, denn Maßnahmen der USA haben vieles verschärft. Erst unter Trump; dann durch Biden, der nichts verändert hat. Ein Beispiel sind Überweisungen nach Kuba, eine der drei Quellen des Einkommens auf der Insel. Was einst auf mehr als drei Milliarden Dollar jährlich geschätzt wurde, ist inzwischen durch die Politik eines beschränkten Finanzflusses praktisch abgewürgt.
In Ihrem Blog „La Cosa“ schreiben Sie, was gerade auf Kuba geschehe, sei so ernst wie noch nie.
Weil es sich um Proteste handelt, bei denen es um elementare soziale Fragen geht: die Lebensmittelknappheit, fehlende Medikamenten und so weiter. Zugleich haben Intellektuelle, bildende Künstler, Schriftsteller oder Filmemacher die staatliche Gewalt ebenso verurteilt wie die Gewalt des Aufruhrs gegen Menschen und Eigentum. Erstmals äußerte sich Prominenz wie Los Van Van, Kubas bedeutendstes Orchester seit 1959, mit einer Grundsatzerklärung, um jede Art von Gewalt, auch die der Polizei, zurückzuweisen, um zur Ruhe und einer friedlichen Lösung der Konflikte aufzurufen.
Wie groß schätzen Sie die Rolle der Social-Media-Kanäle derzeit ein?
Laut Statistik haben fast viereinhalb Millionen Kubaner Zugang zum Internet. Eine große Anzahl von ihnen greift auf Netzwerke zurück und ist sehr vielen Informationen ausgesetzt. Das heißt, der Bürger ist durch die sozialen Kanäle pluralistischer informiert als durch die offiziellen Medien. Doch hat dies auch dazu geführt, dass die Menschen mit Fake News und Informationen aller Art bombardiert werden, in diesem Fall mit Aufrufen zur gewaltsamen Destabilisierung der politischen Ordnung. Doch wir sollten erkennen, ein digitaler Apagón kann keine Lösung sein. Der Umgang mit dem Internet verlangt Verantwortung vom Staat und von den Bürgern. Es wird sich nichts ändern oder lösen, wenn man soziale Netzwerke verteufelt oder leugnet.
In Ihrem Buch „Der Kontinent des Möglichen. Eine Untersuchung über den revolutionären Zustand“ von 2008 findet sich ein Leitspruch, der so aktuell wie nie erscheint: „Debattieren heißt teilnehmen, teilnehmen heißt, sich einmischen.“ Welche Bedeutung bekommt dieses Leitmotiv heute?
Es sollte in das kubanische System integriert werden, was gerade an Forderungen erhoben wird. Gegenwärtig gibt es nur wenige Möglichkeiten, das, was debattiert wird, in ein Mitentscheiden umzuwandeln, und aus Menschen, die debattieren, politische Akteure zu machen. Es existiert ein vertikales Verfahren, bei dem der Staat zwar zu öffentlichen Gesprächen aufruft, dann aber auswählt, was er für notwendig hält. Es fehlt ein wirklich interaktiver Dialog, bei dem beide Seiten gleichermaßen intervenieren. Wer Vorschläge macht, sollte auch mit darüber entscheiden dürfen, wie sie auf die Realität einwirken. Debattieren ist nicht dasselbe wie partizipieren und sich einmischen.
Der Druck von außen wird immer größer. Werden diejenigen, die nun zu einer humanitären US-Intervention aufrufen, am Ende gewinnen?
Sollte dieses Szenario eintreten, würde das eine riesengroße Kraft des Widerstands produzieren, zu dem ich mich natürlich auch zähle. Eine der grundlegenden Komponenten der kubanischen politischen Kultur ist der Nationalismus. Unser Antiimperialismus ist nicht, wie manche glauben, eine Erfindung der kubanischen Revolution; seine Wurzeln gehen bis in die Kulturpolitik des 19. Jahrhundert zurück und bestehen bis heute. Ich glaube, man muss hier zwei Aspekte verbinden: die Forderung nach Souveränität angesichts einer möglichen Intervention mit der nach einer größeren Demokratisierung. Kuba und die Kubaner brauchen Raum, um interne Konflikte innerhalb ihres Landes zu lösen – ohne Einmischung von außen. Deshalb sind wir sehr kritisch, wenn eine Intervention auch nur erwähnt wird.
Sie haben in Ihrem Blog „Was man tun kann“ Vorschläge unterbreitet, welche sind das?
Analysiert man den VIII. Parteikongress, der vor ein paar Monaten stattfand, und die Struktur der Investitionen, sieht man, dass 50 Prozent in den Tourismus fließen, aber Investitionen in die Landwirtschaft und andere Branchen nur niedrige Prozentsätze aufweisen. Diese Ausgabenstruktur hat viel mit der Art von Politik zu tun, die in Kuba den Sektoren gilt, die am mächtigsten sind. Sie entscheiden, welcher Kurs eingeschlagen wird. Die Sozialpolitik war stets eine Säule des kubanischen Prozesses, aber zuletzt Kürzungen ausgesetzt. Zugleich haben Armut und soziale Ungleichheiten zugenommen. Das muss künftig im Mittelpunkt einer erneuerten Politik stehen, die an verarmte Viertel, an Gemeinden mit Rassenproblemen und an einkommensschwache Ein-Personen-Haushalte zuerst denkt. Es gibt Menschen, die in sehr prekären Verhältnissen leben, vor denen die Sozialwissenschaft seit Jahren warnt. Die Lösung kann keine neoliberale sein. Die sozialistischen Zustände Kubas zu erneuern, kann nur heißen, dass dabei das Politische mit dem Wirtschaftlich-Sozialen korrespondiert, um einen demokratischen, volksnahen Weg zu finden.
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