Wer oder was ist „Taussig“ und „Wachenfeld"?

Erinnerungskultur zunächst, digitale Erinnerungskultur. Und ein bemerkenswert komplexes, politisches Kunstprojekt der Malerin Konstanze Sailer namens „Memory Gaps“.

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Was vorab und nur am Rande zu sagen wäre: Zu den Jahrzehnten meiner Galeriebesuche landauf, landab, wohlgemerkt primär im urbanen Raum, gesellten sich in den vergangenen Jahren auch vermehrt virtuelle Rundgänge durch die zeitgenössische Kunst. Während der zahllosen abendlichen Stunden in den globalen Kunstportalen, vor einem großen Schirm mit guter Auflösung, lassen sich Kunstwerke in Nahaufnahme in bisweilen herausragender Qualität betrachten.

Bei einem meiner virtuellen Rundgänge stieß ich erneut auf die Kunstaktion Memory Gaps ::: Erinnerungslücken. Die aktuellen digitalen Ausstellungen stellen dabei thematisch jeweils Opfer und opportunistische Mitläufer der NS-Diktatur einander gegenüber. Opfer, d. h. deportierte und in den Konzentrationslagern ermordete Künstler, etwa Maler, Schriftsteller, Musiker usw. gegenüber jenen Künstlern, die ausgerechnet in der NS-Zeit glänzende Karrieren gemacht haben.

Da gibt es zum Beispiel in Salzburg die jüdische Malerin Helene Taussig, die sich 1934 in einem Vorort der Stadt Salzburg ein Atelier errichten lässt, sie verliert 1940 ihr Aufenthaltsrecht im Ort, wird 1941 enteignet und 1942 deportiert und im polnischen KZ Izbica ermordet.

Praktisch gleichzeitig beauftragt Hitler seinen Architekten Albert Speer 1938 damit, in Baldham, am Stadtrand von München, ein monumentales Atelier für den Bildhauer (und NSDAP-Mitglied) Josef Thorak zu planen und bauen zu lassen. Allein die drei wahnwitzigen Eingangstore des für riesige Figuren und Plastiken ausgelegten Ateliers hatten eine Höhe von etwa 11 Metern.

Was Memory Gaps anprangert, ist, dass es heute (2016) noch immer eine Straße im Salzburger Stadtteil Aigen gibt, die nach Josef Thorak benannt ist, hingegen nicht eine Straße existiert, die den Namen des NS-Opfers Helene Taussig trägt.

Und die Beispiele werden Monat für Monat fortgesetzt. Viele renommierte Persönlichkeiten des Kunst- und Kulturbereiches arrangierten sich mit dem NS-Regime, um ihre Karrieren fortzusetzen oder diese, aufgrund der Vertreibung jüdischer bzw. politisch in Ungnade gefallener Kollegen, sogar zu beschleunigen.

Im „Haus Wachenfeld“ (dem später zum „NS-Berghof am Obersalzberg“ ausgebauten Gebäudekomplex) trafen einander gegen Jahresende 1935 der Dirigent von Weltrang Clemens Krauss und Adolf Hitler zu Unterredungen. Krauss, von 1929-34 Direktor der Wiener Staatsoper, setzte seine glanzvolle Karriere in Berlin fort, als Musikalischer Leiter der Berliner Staatsoper (1935-36), Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper (1937-44), Rektor des Salzburger Mozarteums (1939-45) sowie Generalintendant der Salzburger Festspiele (1942-45).

Und Memory Gaps erinnert demgegenüber an den ganz anderen Lebenslauf der Marianne Golz, Sängerin und Ensemblemitglied des Wiener Raimundtheaters und des Salzburger Stadttheaters. Sie emigriert bereits 1934 nach Prag, 1939 gelingt ihr die Flucht von dort nicht mehr, sie schließt sich einer Widerstandsgruppe an, die mittels gefälschter Ausweise und Reisedokumente Juden zur Flucht aus Prag verhilft. Ihre Widerstandsgruppe wird von der Gestapo entdeckt, verhaftet und Marianne Golz als „Saboteurin wegen der Begünstigung von Reichsfeinden“ zum Tod verurteilt und 1943 im Prager Gestapo-Gefängnis Pankrác geköpft.

Nach Clemens Krauss sind mehrere Straßen in Österreich und Deutschland benannt, aber keine einzige Straße, kein Weg, kein Platz oder noch so kleiner Park ist nach Marianne Golz benannt.

Die Kunstinitiative der deutsch-österreichischen Malerin Konstanze Sailer eröffnet Monat für Monat zum Gedenken an verfolgte, deportierte und ermordete Menschen digitale Ausstellungen von Tuschen auf Papier in virtuellen Räumen. Die Galerien befinden sich dabei stets in jenen Straßen oder an jenen Plätzen, die es nicht gibt, die es jedoch unbedingt geben sollte: solche mit Namen von Opfern der NS-Diktatur. Monat für Monat wird damit das kollektive Gedächtnis erweitert und es werden offenbar bestehende Erinnerungslücken geschlossen.

Ausstellung „Wachenfeld“ (Januar 2016)

Ausstellung „Taussig“ (Februar 2016)

Am 27. Januar 2016 findet übrigens wieder der alljährliche Internationale Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus statt, ein Anlass die Ausstellungen von Memory Gaps ::: Erinnerungslücken zu besuchen, sie sind schließlich nur einen Klick weit entfernt.

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