Er schuf einen Gegenstand, den niemand gebrauchen konnte

Alltag Hobbies? Gibt es das noch? Früher bauten Väter Modelle von Flugzeugen und Kinder kneteten Salzteigbrezeln. Heute hat sich die Bedeutung der Freizeit geändert. Auch das Hobby hat eine Metamorphose erlebt

Alle hatten Hobbies. Meine Schulfreundin war im Schwimmverein, mein Bruder widmete sich der Ornithologie, mein bester Freund trainierte auf dem Sportplatz Laufen, Werfen und Springen, mein Cousin sammelte Briefmarken. Ich hing in meinem Zimmer herum, hatte Wachstumsschmerzen in den Beinen und grübelte: Warum verwendet meine Schulfreundin ihre Zeit darauf, von Beckenrand zu Beckenrand zu flitzen? Macht es tatsächlich einen Unterschied, ob mir eine Lach- oder eine Silbermöwe auf die Jacke kackt? Ist es wichtig, ob mein Cousin eine Sekunde schneller oder langsamer läuft? Und was soll man mit gebrauchten Postwertzeichen, die man nicht mehr benutzen kann?

"Der Junge ist ein Stubenhocker", sagte mein Vater.

"Er ist zu schnell gewachsen", meine Mutter.

Ich wartete darauf, dass sie aus meinem Zimmer verschwanden und versuchte weiter nachzudenken. Dann schlief ich vor Langeweile und Unglück auf dem Sofa ein.

Meine Mutter schleppte mich zum Arzt. Im Wartezimmer roch es nach feuchten Mänteln, fettigen Haaren und Desinfektionsmitteln. Auf einem Ölgemälde an der Wand war ein Unwetter auf hoher See zu sehen. Die Wellen türmten sich, das Blau wirkte sehr kalt. Immer wenn die Tür des Sprechzimmers sich kurz öffnete, hörte man die dröhnende Stimme des Arztes, meistens lachte er. Dann waren wir an der Reihe. Meine Mutter gab ihm die Hand, zeigte auf mich und sagte:

"Er ist antriebsschwach. Er hat keine Hobbies."

Der Doktor hatte eine sehr große Brille auf und lächelte mich an. Dann untersuchte er mich, ich fühlte seine weichen, kräftigen Hände auf der Haut. Zum Schluss leuchtete er mir in die Augen und hörte mich mit einem Stetoskop ab.

Er sah mit einem Achselzucken zu meiner Mutter hinüber.

"Wofür interessierst du dich denn?", fragte er.

"Haben Sie denn ein Hobby?", fragte ich zurück.

"Ich arbeite jeden Tag von morgens um acht bis abends um acht. Mein Beruf ist mein Hobby. Aber in deinem Alter habe ich Briefmarken gesammelt."

Er verschrieb mir ein eisenhaltiges Stärkungsmittel.

"Machen Sie ihm Angebote", sagte er zu meiner Mutter.

Sie seufzte und ging mit mir nach Hause.

Meine Mutter versuchte es. Aber mit wenig Erfolg. In der Jugendgruppe des Philatelistenverbandes stufte der schlechtriechende Gruppenleiter die Briefmarkensammlung meines Großvaters als wertlos ein. Beim Weitspringen verfehlte ich meistens das Brett. Als mein Schwimmtrainer versuchte, mir Kraulen beizubringen, wäre ich fast ertrunken. Die Silhouetten der Vögel konnte ich weder erkennen noch voneinander unterscheiden und mit einem Fernglas vor den Augen verlor ich die Orientierung und manchmal auch das Gleichgewicht. Vielleicht hätte ich all diese Handicaps überwinden können. Wäre da nicht das Misstrauen gewesen. Ich verstand den Sinn der Freizeitbeschäftigungen nicht, hatte Zweifel, ein ungutes Gefühl im Bauch, einen diffusen Verdacht.

Im Haus gegenüber wohnte die Familie meines Schulfreundes Armin. Sein Vater, ein Eisenbahner, war nie da. Nach seinen Nachtschichten schlief er sich aus. Dann verschwand er in seinem Hobbykeller. Dort bastelte er, eingehüllt in Zigarrenrauch, aus Papier und Pappmaché ein Modell des Völkerschlachtdenkmals. In stundenlanger Kleinarbeit schnitt er Schablonen und bemalte Figuren. Manchmal erhaschte ich einen Blick durch die angelehnte Tür. Das Modell wuchs nur langsam, Armins Vater nahm es mit den Details sehr genau, an Hässlichkeit kam es aber schon bald an sein Original heran. Die Nachbarsfamilie reagierte auf das Hobby ihres Oberhauptes mit einem Achselzucken. Dennoch versuchte der Vater, Armin für sein Schaffen zu begeistern. Es schlug fehl.

Armin kaufte sich stattdessen vom Konfirmationsgeld ein altes Mofa und musste sich fortan um seine Freizeit keine Sorgen mehr machen. Jedes Mal, nachdem er knatternd vom Grundstück gefahren war, kam er etwa eine Stunde später zurück. Ölverschmiert und fluchend schob er das Mofa auf den Hof und hatte in den folgenden Tagen mit seiner Reparatur zu tun. Damit schien Armin für seinen Vater erledigt zu sein. Der Alte verschanzte sich in seinem Keller. Einsam, unbeirrbar und unerreichbar, selbst für seine Familie, schuf Armins Vater einen Gegenstand, den niemand gebrauchen konnte. Vielleicht wollte er sich als Schöpfer fühlen, vielleicht einfach seine Ruhe haben oder er suchte ein Ventil für Hingabe und Leidenschaft, für die er im Alltag keinen Ort finden konnte.

Während der Ehrgeiz und die Pedanterie der Briefmarkensammler und Leistungsschwimmer mich abschreckten, hegte ich für die stille Liebe, die Armins Vater in seinem Hobbykeller auslebte, eine gewisse Sympathie. Ich versuchte es daraufhin selbst: mit Zinnsoldaten. Verwandte schenkten mir das nötige Zubehör, und bald bestäubte ich Kautschukformen mit Talkum, zündete den Esbitkocher an und löste in einem kleinen Tiegel Zinnbarren auf. Es stank nach Chemie, Metall, versengtem Gummi und Kalk. Leider goss ich überwiegend versehrte Zinnsoldaten. Den meisten fehlte das linke Bein. Schließlich bemalte ich die wenigen gelungenen Exemplare der kaiserlichen Garde in weiß, blau und rot. Leider verliefen die Farben, und die Bemalung sah nicht kaiserlich aus, sondern erinnerte an phantasierte Kriegsbemalungen von grobmotorischen Kleinkindern. Ich knirschte mit den Zähnen. Wenn die Zinnsoldaten schon nutzlos waren, hätten sie wenigstens gut aussehen sollen. Als der Lappen für Terpentin und Farben sich am Esbitkocher entzündete und unser Haus um ein Haar in Flammen aufgegangen wäre, begriff ich den Wink und legte mein neues Hobby ab wie ein Kleidungsstück, das unter den Armen kneift.

Seither sind fast zwanzig Jahre vergangen, und das Wort "Hobby" ist in Vergessenheit geraten. Ich stieß auf den Begriff, als ich einen uralten Lebenslauf einer Freundin las, in dem sie als Hobby "Lesen und Musikhören" angab. Das Wort wirkte deplatziert und altmodisch, es roch nach siebziger Jahren, als es noch Kassettenrekorder gab, erinnerte an Salzteigklingelschilder und Mekramee-Eulen und gab mir Fragen auf. Auch heute gehen die Menschen um mich herum in ihrer freien Zeit Beschäftigungen nach. Nur das Wort "Hobby" hört man nicht mehr. Wo ist es hingegangen? Ist es verschwunden? Oder gibt es das Hobby noch, und niemand nennt es mehr so?

Wenig später traf ich meine Schulfreundin wieder, sie hatte sich vom Schwimmen aufs Radfahren verlegt. Auf einem feingeteerten Weg am Rande der Stadt kam sie mir entgegen und bremste scharf, erst wusste ich gar nicht was los war, dann habe ich sie an der Stimme erkannt. Mit ihrem Helm, der metallikfarbenen Brille und den enganliegenden Klamotten erinnerte sie an ein Insekt.

"Tolles Rad."

"Ist mein altes Rad. Ich brauch ein neues."

"Deine Eltern hatten noch Klappräder, erinnerst du dich?"

"Das hat nichts gebracht. Nicht für die Kondition, nicht für die Fettverbrennung, nicht für die Muskulatur."

"Sie wollten bloß ein bisschen rumgondeln, durch die Natur, Spaß haben und so."

"Hat für den Rücken aber rein gar nichts gebracht."

Dann raste sie weiter.

Meinen ehemals leichtathletischen Freund traf ich neulich im Wald. Er war auf Inline-Skates unterwegs. An seinem Körper hatte er die Warenbestände eines halben Sportkaufhauses verteilt: hautenge Funktionskleidung, Schulter-, Waden-, Knie- und Ellenbogenpolster, eine ergodynamisch geformte Wasserflasche am Gürtel und einen futuristischen Helm auf dem Kopf.

"Krieg der Sterne", sagte ich.

"Mach keine Witze", gab er zurück.

Ob Inlineskaten sein Hobby sei?

"Hobby? Klingt süß", sagt er. "Ne, Inline­skaten ist Sport."

Mein Bruder ist noch immer Ornithologe. Früher, als er Aprilnächte frierend im Schlafsack verbrachte, um irgendwo in der Lüneburger Heide Birkhähnen bei der Balz aufzulauern, dachte ich, Vogelkundler seien Puristen, bei denen nur der Spaß an der Sache zählt. Aber auch mein Bruder hat aufgerüstet, sein Zeiss-Fernglas hat ein Vermögen gekostet, und er nennt sein Treiben nun ›Birdwatching‹ und nicht mehr Ornithologie. Im Gegensatz zu früher hat seine Freizeitbeschäftigung heute sichtbare Ergebnisse: Die Fotos von seiner letzten Südafrika-Reise, jede Menge exotischer Vögel, hat er ins Internet gestellt.

Mein Cousin Boris, der frühere Briefmarkensammler, hebt irritiert die Braue, als ich nach dem Verbleib seiner Sammlung frage. Er lebt mit seiner Frau in einem Haus zwanzig Autominuten von der Stadtgrenze entfernt. Die Briefmarkensammlung liegt im Keller und wurde Jahrzehntelang nicht mehr angefasst. Anders als der Garten. Der ist eine Augenweide, seine Frau hat ihn in monatelanger Schwerstarbeit bepflanzt. Ob nach a­yurvedischen oder Fengshui-Prinzipien habe ich vergessen. Manchmal laden die beiden ihre Freunde ein. Dann kochen sie in ihrer Küche aus Granit und Edelholz Siebeck-Gerichte nach.

Meine Schulfreundin, mein Bruder, mein bester Freund oder der Cousin - sie alle haben anstrengende Jobs und ihre Freizeit verwerten sie wie ein teures Gut. In der Salzteigzeit, als die freie Zeit noch wucherte, rief sie nur so danach, verschenkt und vergeudet zu werden. Ob man sinnlos sportliche Leistung erbrachte oder mit der Akribie eines Beamten alte Postwertzeichen sortierte oder ob man hingebungsvoll zweckfreie Gegenstände schuf. Heute ist fast alles nützlich, was die Freizeit gebiert, und dient der Veredelung des Selbst. Es hebt den Status, es bildet oder ist gesund. Und wenn nötig wird in diese Optimierung des Ich investiert wie man Investitionen in ein Unternehmen tätigt. Es gibt sie noch, die Hobbies. Sie haben sich verwandelt und ihre Namen geändert. Verse dichten heißt nun "Kreatives Schreiben". Und Wohnung dekorieren "Raumgestaltung". Und niemand sagt mehr "Hobby" zu seinem "Hobby". Man hat Interessen oder man treibt Sport.

Während Boris noch spricht, muss ich an das Lächeln denken, das Armins Vater manchmal lächelte, wenn er am Abend aus seinem Hobbykeller kam. Boris lächelt auch, als er mir seinen Garten zeigt. Aber anders. Irdischer.

Vor ein paar Wochen besuchte ich meine Eltern, und nebenan vor dem Haus der Nachbarsfamilie stand ein Container voll mit alten Pappschachteln und Papier. Obendrauf lag das Völkerschlachtdenkmal, staubig und verbeult. Der Alte war gestorben, niemand hatte Verwendung für das Modell.

Demnächst erscheint von Uwe Jahn Weit raus, Erzählungen, Männerschwarm Verlag, Herbst 2008. Männerschwarm Verlag, Herbst 2008.

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