manchmal bin ich neidisch auf meinen vater. weil ihm so gar nichts zu fehlen scheint. er lässt sich auf der terrasse nieder und blättert mäßig interessiert in der lokalzeitung. sonnengebräunt, wohlgenährt und kerngesund sieht er aus. vor etwa drei jahren hat er mit dem altern aufgehört. keiner weiß, wann er wieder damit anfängt. aber ich fürchte mich ein wenig davor.
das muss doch ein tolles gefühl sein: er ist 68, hat zwei häuser und ein seegrundstück, drei studierte kinder und eine frau, die aufmerksam auf seine wünsche eingeht. vor ihm der garten sieht aus, wie ein garten aussehen muss. rosa blühen die rosen, efeu wuchert die wand hinauf, der rasen gedeiht in frischem grün, glänzend der buchsbaum, üppig hortensien und margariten. die einzige arbeit, die er mit dem garten hat, ist, meiner mutter ab und zu ein kompliment für das ergebnis ihrer mühe zu machen.
vor zwei stunden hat er mich vom bahnhof abgeholt.
wir rauschen in seinem silbernen mercedes über die landstraße. er fragt nach meiner schwester. sie hatte sich verliebt. unglücklich. es war das übliche: sie litt unter schlaflosigkeit, nahm ab, war geisel eines telefons, das nie klingelte. nun ist sie, nach wehmütigen wochen, zu ihrer freundin zurückgekehrt. sie hat den vater ins vertrauen gezogen, ihm beim letzten besuch ihr herz ausgeschüttet, und er hat verstanden. er wertet nicht, er ist nur besorgt. ich kann ihn beruhigen, die beiden haben es überstanden, es geht ihnen gut miteinander und fast scheint es, als sei ihre partnerschaft einmal mehr gewachsen.
dann frage ich.
ist dir sowas auch schon mal passiert?
was?
na dass du dich verliebt hast. ich meine in der ehe.
nein, ich hätte doch niemals meine familie im stich gelassen.
nein, das muss man ja auch nicht gleich. aber trotzdem kann es ja passieren, dass man sich für jemanden begeistert und verliebt ist. auch wenn man trotzdem bei seiner familie bleibt.
nein, ich habe gewusst, dass mein platz bei euch ist. das hätte doch auch keinen sinn gehabt.
na, das herz fragt ja nicht nach sinn. passieren kann alles mögliche. bei ellen war es eigentlich ja auch absurd. sie hatte sich nie so gut mit ihrer freundin verstanden, wie zu dem zeitpunkt, als ihr diese andere frau über den weg lief.
nein, ich hatte mammi schließlich geheiratet, da kam sowas nicht in frage, es hätte ja auch nichts gebracht.
verschweigt er mir etwas? weiß er es nicht besser? oder weiß er das richtige, und wir kinder machen alles falsch?
er lenkt den wagen durch ein ehemaliges grenzdorf, das holperpflaster ist längst unter einem ebenmäßigen asphaltbelag verschwunden, sauber und frisch geputzt die fachwerkhäuser. im wagen riecht es nach neuem auto. überhaupt das auto. es passt zu ihm. er hatte es ursprünglich nicht auf einen großen wagen angelegt. nun ist er rentner, jetzt kann er sich ein großes auto leisten und er tut es auch, freut sich jeden tag daran, ohne der versuchung zu erliegen, damit anzugeben. und sollte jemand neidisch sein, grinst er leise. typisch.
mein vater lebt ein leben voller gewissheiten. jeden tag steht ein leibgericht für ihn auf dem tisch. er ist ein mann mit vorlieben, er trinkt beispielsweise gern ein glas kalten kaffee, so um die mittagszeit. in der küche steht immer eins für ihn bereit, das ist im morgenkaffee schon mit einkalkuliert und nicht der rede wert. seine frau richtet sein leben so ein, dass er immer das gefühl haben kann: es ist für mich gesorgt.
draußen steht die sonne hoch. er erzählt. letzte woche war er mit meiner mutter in sangerhausen, im rosarium. einfach so, sie hatten lust, etwas zu unternehmen. 6.000 sorten rosen, und tipptopp gepflegt. das sah natürlich sehr gut aus, sagt er. und dann, weil wir schon mal unterwegs waren, haben wir uns noch das lutherhaus in eisleben angeguckt. haben wir das auch mal gesehen, ist eigentlich ein sehr schönes museum, was die da haben.
zehn schläfrige mittagsminuten später beklagt er sich. freitag haben wir gäste zum grillen. den nächsten tag müssen wir zu einem 80. geburtstag, morgens ist empfang und danach bis um sechs mit´m schiff auf der elbe. da ist der ganze tag weg. und sonntagabend müssen wir zum gartenfest. immer is was. im september fahren wir schon wieder an die ostsee. eigentlich wollte ich ja mal die pyramiden sehen, aber nach ägypten schaffen wir es frühestens im nächsten herbst. man kommt nicht zur ruhe.
ich sage, sei froh, vater. ihr habt freunde, die euch treffen wollen, ihr habt ideen, was ihr noch erleben möchtet und wünsche, die ihr euch erfüllen könnt. meine angst ist immer, dass ich alt bin und es ist nichts. keiner ruft an, keiner besucht mich. und allein in urlaub fahren mochte ich noch nie. er ruckelt sich in seinem sessel zurecht. vielleicht haste ja recht. aber zu viel isses mir trotzdem.
mein vater steht auf, ächzt, dreht den sonnenschirm so, dass er wieder schatten hat. es ist ihm eigentlich zu heiß. er sagt, dass sie eine markise kaufen wollen. immer muss man sich kümmern, immer liegt irgendwas an.
ich greife nach dem spiegel und lese. neuigkeiten aus einer anderen welt, ich muss mich anstrengen. vater blickt in den garten, legt den kopf schief und fragt.
hast du eigentlich im moment wieder einen bekannten oder freund oder ... äh?
nö. überhaupt nicht.
naja, was nich is, is eben nich.
ach weißt du, ich geh jetzt auf die 40 zu, ich hab das gefühl, ich bin beweglich und gut dabei. mal sehen, was kommt.
drei frühstücksmorgen, drei mittagessen und drei verträumte nachmittage am see zu dritt, später bringt er mich zum bahnhof. er küsst mich zum abschied und nimmt mich dabei in den arm.
besuch uns bald wieder - solange wir noch da sind. er lächelt, winkt und steigt in seinen mercedes.
Uwe Jahn ist freier Hörfunkredakteur und Autor. Er lebt in Berlin.
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