Wenn ich plaudern würde ...

Alltag Zum Herbstanfang: Ein paar Sommergeheimnisse

Es war an einem Sonnabendvormittag, so gegen elf. Auf dem Balkon roch es nach frischen Brötchen und Kaffee, auf dem Hof zeterte eine Amsel, und ich wollte mir gerade die Wochenendbeilage meiner Zeitung vornehmen. Es versprach ein schöner Tag zu werden und Berlin begann unter der Hochsommerhitze zu ächzen. Da rief Martina an.

"Du musst sofort herkommen, sofort. Und bring den Schlüssel mit, schnell. Bitte."

Wir hatten vor langer Zeit zusammen studiert. Und in der Urlaubszeit kümmere ich mich um die Wohnung, die sie mit ihrem Mann Jens bewohnt. Martina ist Juristin und sieht aus, als wäre sie in einer gebügelten Bluse zur Welt gekommen. Niemand weiß, dass man sich mit ihr hervorragend betrinken kann. Außer mir. Martina schien außer Atem zu sein.

"Was ist passiert?", fragte ich.

"Ich habe mich ausgeschlossen."

"Wenn du klingelst, lässt dein Mann dich doch bestimmt wieder rein, oder?"

"Witzbold. Jens ist einkaufen. Und ich muss in die Wohnung, bevor er wieder hier ist."

"Warum das denn? Warte einfach unten im Café, dann siehst du, wenn er zurückkommt, ihr geht zusammen nach oben und alles ist gut."

"Überhaupt nichts ist gut. Du kommst jetzt sofort mit dem Schlüssel hierher! Stell mir keine Fragen, gib mir keine Tipps, komm einfach. Und zwar schnell. Ganz schnell."

"Vielleicht sagst du mir auch noch, dass es um Leben und Tod geht?", versuchte ich zu witzeln.

"Es geht um Leben und Tod", sagte Martina und legte auf.

Als ich ankam, sah sie schon ziemlich mitgenommen aus. Rotfleckige Wangen, tellergroße Schwitzflecken, die Haare hingen ihr in feuchten Strähnen vom Kopf. Als ich sie wie üblich mit vier Küssen begrüßen wollte, schob sie mich in den Hausflur und zischte nur: "Schließ auf!"

Dann stürmte sie in die Wohnung. Ich hinterher. Gerade noch konnte ich sehen, wie sie einen Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer vom Esszimmertisch nahm und in ihre Jeanstasche stopfte. Dazu sagte sie: "Oh Gott oh Gott oh Gott."

Ich wollte mich schnell verkrümeln, bevor Jens wieder auftauchte. Wir hätten ihm meine Anwesenheit zu dieser für uns untypischen Zeit kaum erklären können.

"Was ist denn das für ein Zettel?", fragte ich noch.

"Da ist kein Zettel, da ist gar nichts. Nichts gewesen, niemals, capito?"

"Hm. Du hast jemanden kennen gelernt?"

"Du bist ein echter Freund", seufzte sie und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. "Kein Wort zu niemandem. Ja, ich habe jemanden kennen gelernt, aber das geht im Moment noch keinen etwas an. Und Jens schon gar nicht."


"Ich könnte nicht leben ohne Geheimnisse", hatte mir auf der Party gestern Nacht die beste Freundin der Gastgeberin anvertraut. Im minimalistisch eingerichteten Wohnzimmer gruppierten sich die anderen Partygäste um ein ayurvedisches Büffet. Nur wir standen draußen auf dem Balkon und zogen süchtig an unseren Zigaretten. Am Großstadthimmel blinkten mager ein paar Sterne, die Zigarettenglut leuchtete rot, es war zu dunkel, um die Augen des anderen zu erkennen. Wir lehnten uns auf das Geländer, sahen in den diffusen Himmel, und manchmal berührten sich zufällig unsere Ellenbogen. Aus der Wohnung drang das Stimmengewirr der anderen Gäste und das Geräusch splitternden Glases.

"Geheimnisse sind der Anfang vom Ende", sagte ich.

"Ohne Geheimnisse gäbe es keinen Anfang, kein Ende und das dazwischen schon gar nicht."

"Wenn ich jemanden liebe, dann sind Ehrlichkeit, Respekt und Vertrauen ...", setzte ich an. Gott sei Dank unterbrach mich die beste Freundin der Gastgeberin: "Darum geht es nicht. Ich muss doch erst weggehen, um wiederkommen zu können. Das muss ja nicht immer gleich Betrug sein. Nur etwas Eigenes haben, kurz mal weggehen. Und der andere darf nicht wissen, dass ich weggegangen bin. Sonst ist er entweder verletzt - und das will ich nicht. Oder er reagiert panisch und lässt mich sitzen. Das will ich erst recht nicht, denn ich liebe ihn schließlich."

"Und was für ein Geheimnis hast Du vor Deinem Mann?"

Sie zögerte und holte tief Luft.

"Ich weiß etwas über ihn, das er vor allen verheimlicht. Mein Geheimnis ist, dass ich seines kenne. Manchmal ist es ganz einfach."

"Und was ist sein Geheimnis?"

"Eine Tochter. Er hat sie gezeugt, als er 19 war. Seine Eltern durften damals nichts davon erfahren, sie waren reaktionär und reich. Die Zeiten waren anders damals. Er wollte das Erbe weder für sich, noch für das Mädchen gefährden. Dann hat er sich offenbar daran gewöhnt, dieses Geheimnis zu haben. Vor zwei Jahren habe ich einen Brief von dem Mädchen gefunden. Seitdem weiß ich, dass seine Dienstreisen nach Stuttgart keine Dienstreisen sind. Und warum er mehr Geld braucht, als er ausgibt."

"Hast Du ein Problem damit?"

"Ich weiß, dass er sich immer um das Mädchen gekümmert hat, alles andere wäre schwerer zu ertragen. Vielleicht möchte ich sie einmal kennen lernen, auch wissen, ob sie ihm ähnlich ist. Aber ich würde ihm ein Geheimnis zerstören, etwas nehmen, was bisher nur ihm gehört hat. Ich habe kein Recht dazu. Womöglich sind Geheimnisse eine Lebensversicherung für Liebesbeziehungen."

"Darüber muss ich nachdenken. Und weitertrinken muss ich auch."

Sie goss mir Wein nach, die Hälfte davon lief über mein Handgelenk. Das mit dem Nachdenken hat dann nicht so gut geklappt, aber Trinken funktionierte noch.


Jetzt stand die Sonne schon hoch über unserem Hof, ich saß beim zweiten Frühstück auf dem Balkon, die Butter begann zu zerlaufen. Gegenüber, Gartenhaus, dritter Stock, zeigte sich der Mittvierziger auf dem Balkon. Eigentlich hatte er sich gut gehalten, seine Taille war noch erkennbar, Brust und Oberarme kräftig, außerdem hatte er Grübchen. Arzt ist er, glaube ich. Über die Brüstung des Balkons ragten sein Tank-Shirt und die Stirnglatze, er goss mit einer Hand die Blumen seiner Frau und kraulte sich dabei die Brust. Seit einer Woche lief er in Unterwäsche durch die Wohnung, sie war wohl verreist. Er trat ins Wohnzimmer zurück, schaltete den Computer ein, schloss die Balkontür und zog die Vorhänge zu. Es ging auf halb zwei zu, und die Sonne ließ meinen Balkon im Stich, wie immer um diese Zeit.

Erst vor einer Woche hatte mein schwuler Freund Alexander angerufen. Seit drei Jahren lebt er in einer festen Beziehung und manchmal finde ich es etwas anstrengend, wie die beiden glückliche Liebe demonstrieren. Die können nun schon jahrelang Händchen halten, da ist es doch nicht zu viel verlangt, damit zwischendurch mal kurz aufzuhören. Wenigstens in meiner Gegenwart. Heteros und Homos, alle gleich. Wenn sie unter der Haube sind, werden sie komisch. Alex räusperte sich und bat mich um ein Alibi für den Abend.

"Ich habe meinen Freund noch nie betrogen. In drei Jahren kein einziges Mal. Jetzt will ich wissen, wie man sich dabei fühlt."

"Alles in Ordnung zwischen euch? Ich meine - geht er dir auf die Nerven? Hast du noch Lust mit ihm zu schlafen? Oder was ist los?"

"Nichts ist los. Ich bin seit drei Jahren so glücklich, dass ich mich manchmal kneifen muss, um es glauben zu können. Na ja, ab und zu gibt´s ein paar Reibereien, aber im Großen und Ganzen ist alles erste Sahne."

"Was ist es dann?"

"Kein Schwuler unter 100 lebt so lange monogam. Ich meine - mit demselben Mann. Ich komme mir langsam vor wie ein Volltrottel. Ich will mir beweisen, dass ich es kann, und dass es noch Männer außer meinem Freund gibt, die es mit mir machen wollen, also: freiwillig mit mir machen wollen."

Dann musste ich ganz genau aufpassen.

"Am besten ist, du schreibst es dir auf, dann kannst du es dir besser merken, falls mal in seiner Gegenwart die Rede auf den bewussten Abend kommt", sagte Alexander. Also merkte ich mir: wir würden ins Kino gehen, und zwar in einen Film, den wir beide schon zweimal gesehen hatten. Wer einen Film zweimal sieht, tut es auch ein drittes Mal, so die Argumentation. Danach gingen wir in eine Bar, die von Alexanders Freund konsequent gemieden wird, und hätten jeder zwei Gin-Tonic getrunken. Alexander würde gegen Mitternacht nach Hause gehen, während ich noch weiterzöge. Als ich diese Instruktionen bekam, war Alexander schon auf dem Weg zum Ehebruch. Ich verbrachte den Abend auf meinem Sofa, ausgehen mochte ich nicht. Wenn ich zufällig Alexanders Freund getroffen hätte, wäre es Essig gewesen mit dem Alibi. Das Fernsehprogramm war katastrophal, und ich hatte keinen Wein im Haus. Außerdem bemerkte ich, wie ich eifersüchtig wurde. Anstatt mit mir ins Kino und in die Bar zu gehen, vergnügte Alexander sich mit einem Fremden. Die Lüge teilten wir, den Spaß hatte nur er.


Am Abend dieses heißen Samstags war ich mit Steffie im Biergarten verabredet. Auf dem Weg dorthin hing ich meinen Gedanken nach, der Sommerwind strich leicht über meine Unterarme. Männer gingen mit dem Mobiltelefon am Ohr vor Kneipen auf und ab. Was redeten sie? Und mit wem? Die Frauen trugen noch in der Dämmerung Sonnenbrillen. Was wollten sie verbergen? Tränen? Übermut? Begehren? Falten? OP-Narben? Manchmal läuft dir ein bestimmtes Thema nach, und du weißt nicht, warum. Es klebt dir an den Fingern wie ein Fliegenfänger und du versuchst herauszubekommen, was das Leben dir sagen will oder womit du das verdient hast. Meistens vergeblich. Ob der Reiz des Geheimnisses in Beziehungen vielleicht auch darin liegt, dass es noch Mitwisser gibt und der Partner der Einzige ist, der im Dunkeln tappt? Oder ob das Geheimnis im ursprünglichen Sinn, von dem tatsächlich niemand etwas weiß außer man selbst, ausreicht als Schmierstoff für langanhaltende Bindungen? Meine Mutter verheimlicht meinem Vater seit 30 Jahren, was ihre Kleider wirklich kosten. Dafür hat sie keine Ahnung, wie viel Geld er auf seinem Geheimkonto hortet.


Steffie erwähnte an diesem Abend scheinbar beiläufig, dass sie sich ab und zu mit ihrer Jugendliebe verabredet. Heimlich. Beide sind verheiratet. Nach dem dritten Glas stellte sich heraus, dass sie sich im Kino oder in einer Bar treffen, herumknutschen, Cocktails trinken und manchmal miteinander schlafen. Steffie sah lächelnd zu, wie die Mücken im Windlicht den Feuertod starben, und erzählte von Ausschweifungen auf einer Parkbank. Es wäre ein seltsames Gefühl gewesen, mit dem BH in der Jackentasche nach Hause zu gehen. Wie in der Abi-Zeit. Sie tätschelte meine Hand, um Verschwiegenheit bat sie nicht. Aber wenn ich plaudern würde, gäbe es einen Mord. Und zwar an mir.

Steffie ging bald, ihr Mann wartete. Weil es erst kurz vor Mitternacht war, wollte ich noch nicht nach Hause. Müde blieb ich eine Weile sitzen und nippte an meinem Mojito.

Zwei Frauen Ende 40 kamen mit Weingläsern an den Nebentisch. Beide gut in Schuss, Typ BAT IIa, die Kinder machen wahrscheinlich gerade Abitur oder studieren schon. Sie waren wohl im Theater gewesen. Wo ihre Männer steckten? Die Blonde mit den großen Augen, Lidschatten in blau, zündete sich eine Zigarette an. Ihre Mundwinkel, eigentlich schon im Begriff, die lange Reise nach unten anzutreten, hoben sich zu einem unbestimmten Lächeln.

"Seit wann rauchst du denn wieder?", fragte die andere, Blassere.

"Ich rauche doch gar nicht."

"Und was ist das da?"

"Das gilt nicht."

"Warum hast du wieder angefangen?"

"Weil ich Lust dazu hatte."

"Und was sagt dein Mann dazu?"

"Gar nichts. Er weiß es nicht."

"Ist es dir nicht mühsam, es zu verheimlichen?"

"Nein, ich rauche ja nicht, wenn er in der Nähe ist. Und abhängig bin ich auch nicht. Ich muss nichts verbergen. Aber ich will einfach nicht, dass er alles über mich weiß."

"Das ist alles?"

"Ja, das ist alles."

Die Nichtraucherin überlegte eine Weile: "Gibst du mir auch eine?"

Als ich ging, machte ich einen leicht verstörten Eindruck auf mich und wahrscheinlich auch auf andere. Es strengt an, Mitwisser zu sein. Im Biergarten dämpften die Leute ihre Stimmen. Die sich nichts zu sagen hatten, lagen längst in ihren Betten und schliefen. Auf dem Nachhauseweg wäre ich fast vom Rad gefallen, aber passiert ist nichts.


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