Anpassung einer Kandidatin

Bürgermeisterwahl Renate Künast stellt den Entwurf für ihr Wahlprogramm vor: Berlin – "eine Stadt für alle" , lautet der Anspruch. Doch fehlen der Spitzengrünen die rechten Worte

Sie sei für Ironie immer zu haben, sagt Renate Künast. Aber nein, sie sehe keine besondere historische Koinzidenz darin, dass sie zur selben Stunde ihren Anspruch auf das Berliner Bürgermeisteramt untermauert, da wenige Kilometer weiter im Stadtteil Friedrichshain die Liebigstraße 14 durch die Polizei geräumt wird – auch keine Ironie.

Am Mittwoch stellte Künast zusammen mit den Landesvorsitzenden der Partei den Entwurf des Grünen-Wahlprogramms vor. Und doch, natürlich weckten die zeitgleich über alle Kanäle laufenden Bilder schwarzgekleideter, buntbehaarter junger Leute, die gegen 2.500 Polizisten ihren Anspruch auf ein mit Transparenten behangenes Haus demonstrieren, das kollektive Berliner Stadtgedächtnis.

Es war ja Künast, die als Fraktionschefin der Berliner Grünen, die damals noch AL hießen, vor zwanzig Jahren eine rot-grüne Koalition in Berlin platzen ließ, nachdem in einem freilich noch weit aufwändigeren polizeilichen Akt die Mainzer Straße in Friedrichshain geräumt worden war. Künast, im November 1990 erst 34 Jahre alt, kritisierte das harsche Vorgehen der SPD, die der AL keine Vermittlerrolle zwischen Besetzern und Innenbehörde gegeben, sondern im Alleingang auf Eskalation gesetzt hatte. „Hausbesetzungen sind legitim“, sagte Künast damals, in den Wende-Monaten, als sich Berlin wiedervereinigt und streckenweise anarchisch zurecht rüttelte.

Nun ist, wie Künast betont, die Liebigstraße heute aber „etwas ganz anderes als damals“ die Mainzer Straße, und auch Künast ist ganz anders. Sie will als Bürgermeisterin aus Berlin eine ganz neue Stadt machen, einen „Aufbruch 2011“ – so der Untertitel des Programms – inszenieren, das Ende des rot-roten Senats unter Klaus Wowereit im Wahlkampf einläuten mit einem Konzept, das, wie Künast sagt, von „programmatischer Reife“ zeugt.

Diese besteht nun aber nicht darin, dass die Kandidatin zuerst einmal von 62 Milliarden Euro Schulden und ausbleibenden Aussichten auf „Wolkenkuckucksheime“ spricht. Die Reife scheint vor allem darin zu stecken, dass der Programmentwurf versucht, Künasts Ungeschicklichkeiten der vergangenen Monate auszubügeln. Angesichts der Kampfansagen einer aufs Autofahrerwohl konzentrierten Lokalpresse ist "Tempo 30" nun nicht mehr der Versuch einer Geschwindigkeitsreduzierung, sondern bloß eine „Anpassung der Beschilderung an die Realität“, sagt Künast: Denn es werde ja schon in 70 Prozent der Stadt Tempo 30 gefahren.

So aggressiv-launig und oft auch kaltschnäuzig-hochgestimmt das Stakkato der Künast'schen Vorträge ist, wenn sie als Fraktionschefin im Bundestag auftritt, so irritierend kleinlaut verteidigt sie jedoch vorm Berliner Pressepublikum etwa den Anspruch nicht-autofahrender Bürger auf weniger Gefährdung. Man müsse doch auch die Kinder, die alten Leute berücksichtigen, in anderen Ländern habe man gute Erfahrungen mit Tempo 30 gemacht, weniger Unfälle und so. Da fällt ihre Stimme aber schon ab.

Künast erklärt, 100 Millionen Euro müssten bei den Sozialausgaben gespart werden, angesichts der zu Auswüchsen neigenden Trägerszene – Stichwort Maserati für den Chef der Treberhilfe –, sei dies wohl möglich. Doch angesichts der Sprengkraft, die solch eine Forderung im lobbyistisch gut gerüsteten Berliner Sozialsektor noch entfalten dürfte, ist der Spitzenkandidatin keine Kampfeslust anzumerken. Es ist, als fehlten ihr für jeden krawallträchtigen Programmpunkt der zweite und der dritte Satz, die es normalerweise braucht, um die Umsetzung, die Idee dahinter zu erläutern. Es ist, als fehlten Künast immer noch die Worte für ihre Kandidatur. „Eine Stadt für alle“, lautet der Anspruch. Die Kandidatin für alle ist noch nicht erkennbar. Die Wahlen sind am 18. September.

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Geschrieben von

Ulrike Winkelmann

Ressortleiterin Politik

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