Jetzt findet sogar die FDP, dass es bei der Abstimmung der Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. „Das war tatsächlich kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Deutschen Bundestags, weder für die Koalition noch für die Opposition“, hat der FDP-Haushälter Otto Fricke der Berliner Zeitung erläutert. Er vermisse die Praxis, Probleme bei der Parlamentsarbeit durch Gentlemen-Agreements auf dem kleinen Dienstweg zu klären.
Tags zuvor hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert bereits via FAZ seinen Unmut über die Vorgänge der Vorwoche kundgetan. Lammert, selbst in der CDU, erklärte, dass der Bundestag zu wenig Zeit von der Bundesregierung bekommen habe, sich mit dem Gesetz zu befassen, das eigentlich aus vier Gesetzesbündeln besteht, welche durch vier verschiedene Ausschüsse mussten. Das gewählte Verfahren trage „den Verdacht mangelnder Sorgfalt“ in sich. „Wir nehmen uns selbst nicht die nötige Zeit", sagte Lammert: „Wir weisen Zumutungen nicht als Zumutungen zurück."
Dazu hätte Lammert zwar als Chef des Ältestenrats, in dem das parlamentarische Vorgehen abgestimmt wird, ausreichend Gelegenheit gehabt. Er sagt jedoch selbst, dass ihm mittlerweile auch prominente Politiker der Unions-Fraktion erzählten, sie seien überfordert. Demnach wollen auch Unions-Abgeordnete nur noch ungern so offensichtlich von der Bundesregierung als bloßes Stimmvieh missbraucht werden – ohne Gelegenheit, die weittragenden Beschlüsse ihres Kabinetts auch nur im Ansatz von Experten erklärt zu bekommen, gar selbst durchzudenken oder mit anderen Fraktionen zu diskutieren.
Es kann schon sein, dass Lammert sich gerade ein wenig an der Bundeskanzlerin Angela Merkel rächen will, die ihn nicht zum Bundespräsidenten machen wollte. Das ändert nichts daran, dass der Mann die Rechte des Parlaments zu verteidigen hat und es Anerkennung verdient, wenn er hierfür zur Abwechslung einmal nicht bloß Schüler wegen falscher T-Shirts vor die Tür setzt.
Gern wäre man dabei gewesen, als die Laufzeitverlängerung vergangenen Dienstag auf der Tagesordnung des Umweltausschusses stand. Die Sitzung war leider nicht-öffentlich, auf Wunsch von Schwarz-Gelb. Die Grünen wollten über jedes Atomkraftwerk einzeln beraten, was von den Koalitionsfraktionen als „Klamauk“ abgelehnt wurde, es entspann sich eine mehrstündige Schlacht um die Geschäftsordnung, die dem Vernehmen nach damit endete, dass die Ausschussvorsitzende, Eva Bulling-Schröter von der Linksfraktion, weinend aus dem Bundestag gestürmt sei, weil sie sich dem Drängen der Mehrheitsfraktionen nach Einhaltung des Zeitplans nicht mehr zu erwehren wusste.
Was die Grünen sehr wohl im Blick hatten: Um 00.00 Uhr in der Nacht zu Mittwoch mussten sämtliche in den Ausschüssen durchzustimmenden Änderungsanträge in den Postfächern der Abgeordneten liegen. Denn die Abstimmung im Plenum sollte Donnerstag sein, und zwei Tage Vorlauf sind den Abgeordneten zugebilligt, sich mit letzten Änderungen am Gesetzentwurf zu befassen. Dazu aber musste der Umweltausschuss bis 22.00 Uhr fertig werden, denn sonst wäre der ganze Papierkram – abtippen, kopieren, in die Postfächer verteilen – nicht mehr bis Mitternacht zu machen gewesen. Ja, das nennt man Verzögerungstaktik. Aber die Grünen meinen, es handle sich um Notwehr: Schwarz-Gelb dürfe nicht das gesamte Koalitionsprogramm in drei Sitzungswochen durchpauken. Es habe seinen Grund, dass Regierungsperioden auf vier Jahre bemessen seien. Und wäre Frau Bulling-Schröter nicht enteilt und dann von jemand Gefügigerem ersetzt worden, vielleicht hätte es geklappt – und die Bundestagsabstimung vom Donnerstag hätte neu terminiert werden müssen.
Die wiederum musste ja nur deshalb am Donnerstag schon sein, weil die CSU am Freitag ihren Parteitag hatte, was auch CDU-Abgeordnete ärgerte – warum müssen die Bayern auch noch mitten im Abstimmungs-Zehnkampf (um nicht den bekannten „Marathon“ zu bemühen) ihre Horst-Seehofer-Festspiele machen.
Doch so rutschte der Ausschuss so gerade noch gegen 22.00 Uhr durch die Zielgerade – unter größtem Protest der Opposition, die ihre Rechte missachtet sah. Am Donnerstag im Plenum gab es eine höchst erregte Auftaktdebatte. Der Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck rief: „Was wir am Dienstag im Umweltausschuss erlebt haben, war ein Putsch gegen die Rechte der Opposition. Es war ein Bruch von Verfassung und Geschäftsordnung des Hohen Hauses“, und kündigte rechtliche Schritte an. Doch selbstverständlich wurde der Antrag von SPD, Grünen und Linken, die Abstimmung über die Atomkraft zu verschieben, abgelehnt. Und die Diskussion, die dann mit einer Rede des Umweltministers Norbert Röttgen (CDU) ihren Auftakt fand, war tatsächlich auch interessant, lebhaft, und informativ.
Das muss deshalb gesagt werden, weil sich seit Jahren kaum mehr Medienvertreter im Bundestag herumtreiben – allzu öd und vorhersehbar ist geworden, was dort selbst bei historisch nicht unwichtigen Themen besprochen wird. Waren zu rot-grünen Zeiten bisweilen beide für die Presse vorgesehene Tribünen-Segmente überm Plenum voller hälsereckender Journalisten, sitzt man seit den Zeiten der großen Koalition dort inzwischen manchmal sogar ganz allein. Das liegt nicht nur an den mittlerweile guten technischen Übertragungsbedingungen auf www.bundestag.de, sondern vor allem daran, dass Gesetzgebung im Wesentlichen nicht mehr im Bundestag stattfindet, sondern wie das Beispiel der Laufzeitverlängerung zeigt, am Tisch mit den Konzernvertretern.
Auch diesen Faktor könnte Norbert Lammert im Kopf gehabt haben, als er zur jüngsten Verteidigung der Parlamentswürde ausritt.
Wenn nun Angela Merkel ihren „Herbst der Entscheidungen“ in einer Weise inszeniert, dass nach Handlungsfähigkeit aussehen soll, was in Wahrheit eine Verachtung der letzten Informationsrechte des Bundestags ist, birgt das einerseits die wirklich betrübliche Aussicht auf ein großes Auge-um-Auge-Theater. Nach US-amerikanischem Vorbild könnten sich quälende, entpolitisierende und wirklich verblödende Filibuster-Techniken breitmachen, auf die in Wirklichkeit niemand Lust hat, weil jeder weiß, dass die anderen es in der Opposition dann genau so machen werden.
Andererseits ist eine Zuspitzung der formalen Fragen nach Geschäfts- und Tagesordnung eben auch ein Ausdruck dessen, wie scharf der Gegensatz zwischen Regierungs- und Oppositionswillen geworden ist. Die Debatte über die Paragraphen der Geschäftsordnung mögen niemand außer den Mitgliedern des Ältestenrats und dessen Juristen interessieren – die Heftigkeit der Auseinandersetzung wird sich nach außen mitteilen. Die Unterschiede zwischen den Parteien sind erkennbar, und dies trägt laut Auskunft der Meinungsforscher zur Politisierung des Wahlvolks bei. Selbst wenn die Abgeordneten nicht mehr wissen, nicht nachgelesen und auch nicht besprochen haben, was und worüber sie abstimmen – möglicherweise erkennen die Wähler wieder besser, welche Partei wofür steht.
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