Alles, bloß nicht Volkspartei. Und selbst wenn ihre Umfragewerte sich erneut verdoppeln würden – den Begriff „Volkspartei“ haben die Grünen, und hat auch die kommende Grünen-Spitzenkandidatin für Berlin, Renate Künast, beschlossen zu vermeiden. Schnaubend weist sie ihn von sich. Denn Volkspartei, das steht für untergehende Tanker, für korrumptive und bloß vermeintliche Interessenausgleiche, für den Verrat von Prioritäten, für all das, was übrigens aus grüner Sicht die SPD besonders tragisch darstellt.
Nein, die Grünen wollen als Wertepartei, Projektpartei, gerne auch als Programmpartei wahrgenommen werden. Immer noch erzählen sie die weder beweis- noch widerlegbaren Schwänke aus dem Bundestagswahlkampf 2009: Demnach hätten sich die Menschen zuhauf nicht etwa die flattrigen Flugblätter am Wahlkampfstand abgeholt, sondern das ganze dicke Parteiprogramm, um darüber dann am Samstag drauf eine lange Diskussion unterm grünen Sonnenschirm in der Fußgängerzone anzuzetteln. So wird die Botschaft warmgehalten: Grünen-Wähler interessieren sich für komplexe Inhalte und nicht für schnelllebige Phrasen und dünnleibige Versprechungen. Ob es stimmt oder nicht – die aktuellen Umfragen rechnen den Grünen unter anderem deshalb so viel Zuspruch aus, weil sie als besonders glaubwürdig gelten.
Hang zum Grundsätzlichen
Der Mann, der diese Art von Identitätspflege möglich gemacht hat, ist Peter Siller. Siller ist jetzt 40 Jahre alt und hat einen ausgeprägten Hang zum Grundsätzlichen, welches er stets in leicht schleppendem Tonfall, dem man die süddeutsche Herkunft nicht anhört, vorträgt. 1999 stieg der gelernte Jurist als Vorstandsreferent bei der grünen Bundestagsfraktion ein und begann, über Programmatik zu publizieren. Motto: Grundsätzlich mögen Parteiprogramme das Papier nicht wert sein, auf dem sie gedruckt sind, sobald eine Partei an die Regierung rückt. Aber man kann wenigstens versuchen, das Papier und dadurch den Wert zu vermehren.
Der Strom von Texten zum Woher und Wohin der Partei, die Siller entweder maßgeblich oder mit-verfasste, riss nicht ab, als er zu Joschka Fischer ins Auswärtigen Amt ging und dann Leiter der innenpolitischen Abteilung der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung wurde. „Links neu“ zum Beispiel kam im Frühsommer 2004, mitten in den heftigsten Agenda-2010-Kämpfen heraus und wurde als banaler Etikettenschwindel von Joschka-Fischer-Schützlingen belächelt. Doch liest sich der Text im Nachhinein auch als Geständnis von Nachwuchs-Realos, dass man sich womöglich zu sehr von der Arbeitgeberlobby hatte über den Tisch ziehen lassen und es Zeit wurde, dem eigenen Flügel den Geschmack von Linkssein wieder näher bringen.
Das war bald auch nötig: 2005 mussten die Grünen in die Opposition. Von Parteitag zu Parteitag machten sie ihr Programm wieder sozialer. 345 Euro Hartz IV waren nun doch nicht mehr genug. Steuererleichterungen für Gutverdiener dürften so bald nicht mehr goutiert werden. Rentenprivatisierung ist inzwischen nicht mehr bloß „generationengerecht“, sondern wirft neue Armutsprobleme auf. Manche zu rot-grünen Zeiten eingeübte ideologische Beschränkung wurde wieder aufgehoben: „Bildung statt Rentenzuschüsse“, das ist bei den Grünen vorbei. Dass selbst die Realos endlich nicht mehr „Teilhabegerechtigkeit statt Verteilungsgerechtigkeit“ fordern, sondern sowohl das eine wie das andere, ist auch Sillers für Parteiverhältnisse relativ eleganten Schriften zu verdanken. Bei der Verfassung des Bundestagswahlprogramms hat Siller zuletzt eng mit der Spitzenkandidatin Künast zusammengearbeitet. Künast, die neben dem Oberstrategen Jürgen Trittin an der Grünenspitze stets wie die Person mit dem Holzhammer wirkt, scheint sich auf Siller zu verlassen.
Vereiste Gehwege statt Gesellschaftsentwürfe
Denn jetzt kommt Siller, der vor drei Jahren seinen Hauptwohnsitz wegen seines Kindes nach Frankfurt verlegt hatte, zurück nach Berlin – wiederum für die Spitzenkandidatin Künast. Sie will im September 2011 Klaus Wowereit ablösen – als erste grüne Berliner Bürgermeisterin. Siller soll die Gruppe leiten, die das Programm des Landesverbands verfasst – zeitgleich zum Wahlkampf. Spätestens als Anfang Oktober bekannt wurde, dass Siller sowie Künasts Lieblingswahlkämpfer und Ex-Ministeriumssprecher Andreas Schulze in den Berliner Landesverband entsandt würden, durfte mit Künasts Kandidatur fest gerechnet werden. Offiziell verkündet werden soll die Kandidatur nun am 5. November.
Jetzt wird es für Künast wie für Siller um vereiste Gehwege statt um Gesellschaftsentwürfe gehen, um Autobahnabschnitte statt um den Green New Deal. Die Mühen einer Schulreform hat den Grünen aktuell der SPD-Bildungssenator Jürgen Zöllner abgenommen – besser hätten sie es kaum gemacht, geben die Grünen zu. Das Gymnasium wollen sie auch in Berlin lieber erst einmal unangetastet lassen.
Die Berliner SPD tut gegenwärtig so, als wollte sie Renate Künast gern ins Leere oder jedenfalls in die argumentative Klemme laufen lassen: Soll Künast doch begründen, wie sie sowohl mit der CDU als auch mit der Linkspartei koalieren könnte – wir gehen in die Opposition und erlauben den Grünen nicht, die derzeit so beliebte und schon wieder vertraute rot-grüne Karte zu spielen. Niemals werde die SPD eines Klaus Wowereit als kleinerer Koalitionspartner weiterregieren, lassen Wowereits Leute verbreiten. Wenn die Sozialdemokraten sich das nicht noch einmal überlegen, braucht Künast tatächlich vor allem eines: ein wirklich starkes Programm, so stark, dass die Wähler glauben, es lasse sich ebenso mit der Linkspartei wie mit der CDU umsetzen.
Kann sein, dass zwischen unbenutzbaren Bürgersteigen und stockenden S-Bahnen noch große Aufgaben für Siller warten.
Kommentare 2
Typen wie Peter Siller braucht jede Partei, strategische Denker, die nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen wollen, die keine exponierten politischen Posten brauchen. Dass einer wie Siller jetzt das Wahlprogramm schreiben soll, mit dem die Grünen ihren erklärten Machtanspruch für Berlin realisieren wollen, verwundert nicht. Nur dürfte dies auch für den Strategen Siller eine Herausforderung sein, hat er doch viele Aspekte und Unwägbarkeiten zu berücksichtigen.
Erstens muss das Programm spezifische Berliner Kernforderungen enthalten, um die Stammwählerschaft anzusprechen.
Zweitens muss es konkrete und realisierbare Vorschläge unterbreiten, um diejenigen Berliner für die Grünen zu gewinnen, die sich vorstellen können, dieser Partei ihre Stimme zu geben. Das sind nach letzten Umfragen etwa ein Drittel aller Berliner.
Drittens muss das Programm aber auch so verfasst sein, dass es keine unüberwindbaren Hürden für mögliche Koalitionspartner aufbaut, wollen die Grünen sich doch alle Optionen offenhalten. Das heisst in der Praxis, keine Dogmatismen, realpolitische Forderungen, die über Parteigrenzen hinweg konsensfähig sind, und dies, ohne das grüne Profil zu verwässern. Eine Gratwanderung für die Verfasser des Wahlprogramms, gibt es doch drei mögliche Regierungspartner.
Mit der SPD sind die Schnittmengen noch am größten, nur wollen die Sozialdemokraten nicht der Juniorpartner sein.
Schwieriger ist es mit der Linkspartei, zumal die Grünen immer noch nicht vergessen haben, dass diese trotz nur 13% bei der letzten Berliner Wahl wieder in die Regierung eingetreten sind, anstatt ihre Wahlschlappe zu verdauen und sich in der Opposition erstmal neu zu finden. In konkreten politischen Fragen wie der Energiepolitik oder der Stellung landeseigener Unternehmen sind die Unterschiede dagegen nicht unüberbrückbar, und der linke Wirtschaftsenator und Berliner Bürgermeister Wolf war ja früher auch mal bei der West-Berliner GAL, was , vielleicht , manches einfacher macht.
Mit der Berliner CDU wird es noch komplizierter, zumal nach der gestrigen Bundestagsentscheidung zu den längeren Laufzeiten der deutschen AKW-s eine Grün- Schwarze Koalition kaum noch denkbar erscheint. Das könnte aber auch unter den spezifischen Berliner Landesbedingungen anders sein.
" ... braucht Künast vor allem eines, ein wirklich starkes Programm, so stark, dass die Wähler glauben, es lasse sich ebenso mit der Linkspartei wie mit der CDU umsetzen", schreibt der Autor. Das stimmt, selbstbewusste Grüne, die klareAussagen treffen, wie sie Berlin in den nächsten Jahren regieren wollen, die finanzierbare, konkrete Vorschläge unterbreiten, die haben eine Chance, den Berliner Chefposten nicht nur zu besetzen, sondern ihn auch politisch konkret auszufüllen.
Die dafür notwendige Vorarbeit sollen Peter Siller und sein Team erledigen, die Grünen fit machen für den Wechsel vom Kellner zum Koch. Das er dies kann, hat er bereits bewiesen. Mit der jetzt vor ihm liegenden Aufgabe soll er bewiesen, dass die Grünen neben ihren Kernkompetenzen Ökologie und Bürgerrechte auch andere Politikfelder nicht nur abdecken, sondern kompetent bearbeiten können. Letztendlich müssen sie den Wählern deutlich zeigen, dass sie die Führungsrolle in der Bundeshauptstadt übernehmen können , personell, programmatisch und auch mit realisierbaren Visionen.Gelingt ihnen dies, und nur daran werden sie gemessen werden können, wäre dies auch das Verdienst des strategischen Vordenkers Peter Siller , daran wird er parteiintern gemessen werden.
Für Berlin könnte dies ein Gewinn sein, wenn die Grünen alte , verkrustete Strukturen aufbrechen, frischen Wind durch stickige Räume blasen würden.
Auf das Wahlprogramm der Berliner Grünen bin ich jetzt bereits gespannt.
Also, was die nahe Politikzukunft in Berlin (und eh anderswo) angeht...
Wieder ein Ding der Unmöglichkeit.... etwas wegen dem hier:
"Drittens muss das Programm aber auch so verfasst sein, dass es keine unüberwindbaren Hürden für mögliche Koalitionspartner aufbaut, wollen die Grünen sich doch alle Optionen offenhalten."
Das sieht doch jeder, ... dass das nicht geht...!