Die Grünen in Baden-Württemberg stehen vor einem Dilemma: Weil sie die Schlichtung des Konflikts um den Stuttgarter Bahnhof durch Heiner Geißler mit organisiert haben, müssen sie seinen Schlichterspruch akzeptieren. Weil der Schlichterspruch nicht so ausfiel wie erhofft, werden sie ihn überwinden müssen, sollten sie im März die Landesregierung übernehmen und ihre Glaubwürdigkeit erhalten wollen.
Eigentlich sind die Grünen ausgesprochen gewievt im Umgang mit solchen Widersprüchen und gewinnen ausweislich ihrer Umfragewerte aktuell jede Meisterschaft im Erfinden von Umgehungsfloskeln. Wie sehr die Baden- und Schwabengrünen jedoch mit dem Geißler-Spruch zu kämpfen haben, zeigte sich deutlich auf dem Parteitag am Wochenende. Dort brach der Konflikt über dem Umgang mit dem Schlichtungsergebnis offen aus, obwohl die Parteispitze immerhin vier Tage Zeit hatte, sich passende Sprachregelungen auszudenken. Die „1:1-Umsetzung“ von Parteichef Cem Özdemir war jedenfalls nicht die richtige. So musste sich der Bundesvorsitzende vom Stuttgarter Gemeinderat Werner Wölfle vorführen lassen, der erklärte, die Grünen würden Geißlers Ansagen weder 1:1 noch 2:1 umsetzen. Schließlich planen die Grünen eine Volksbefragung zur Verlegung des Bahnhofs unter die Erde – die Geißler ausgeschlossen hat.
Das Kleingedruckte wird stets geopfert
Doch verweist die Formulierung „1:1“ auf das größte Problem des Schlichtungsverfahrens: seine unpolitische Kehrseite. All die wohlmeinenden Schlichtungseuphoriker, die in den sechswöchigen Verhandlungen einen Meilenstein in der Fortentwicklung der Demokratie erkennen wollen, weil sie sachlich und menschlich, transparent und detailgenau sei, müssten nun ja auch begeistert über das komplexe Ergebnis sein. Es ist konditioniert: Wenn all die Auflagen erfüllt sind, in denen sich die meisten Forderungen der S21-Kritiker wiederfinden, dann kann S21 kommen.
Solche Konditionierungen sind aber oft unpolitisch. Politische Ziele werden nur selten inklusive der notwendigen Bedingungen durchgesetzt – nie aber dann, wenn widerstreitende Interessen im Spiel sind. Hartz IV hätte nicht solch gravierende Folgen gehabt, wenn gleichzeitig Mindestlöhne eingeführt worden wären. Tja. Die Kopfpauschale wäre eine diskutable Möglichkeit zur Finanzierung des Gesundheitssystems, wenn die Umverteilung durch Steuern stattfände: wer’s glaubt. Die Rente mit 67 könnte angemessen sein, wenn alle aussteigen dürfen, die nicht mehr arbeiten können – nun denn. Die Liste ist verlängerbar.
Es ist deshalb – anders als die Optimisten unter den Grünen meinen – kein reines Kommunikationsproblem, das sie jetzt mit dem Schlichtungsergebnis haben. Sie müssen nicht bloß dagegen ankämpfen, dass die Leute nur die Schlagzeilen gelesen haben – „Geißler für S21“ –, und nun denken: Ach so, dann ist die Sache wohl gelaufen. Das Problem ist, dass das Kleingedruckte dem Stoff der Schlagzeilen fast immer zum Opfer fällt.
Darum mag sich zwar für raffiniert halten, wer meint, die Erfüllung von Geißlers Bedingungen werde S21 schon den Garaus machen. Möglichweise ist das aber bloß naiv. Wer S21 verhindern will, sollte besser rechtzeitig erklären, dass Geißlers Arbeit gut und schön war. Aber eben das Ergebnis nicht gewollt.
Kommentare 4
1) Als Boris Palmer während der Schlichtung in einem Interview mit Pheonix sagte, dass es mit den Grünen definitiv kein S21 geben werde, wurde er noch am selben Abend von Winfried Kretschmann zurück gepfiffen, der verlauten ließ, dass die Richtung der grünen Landespolitik in der Landtagsfraktion fest gelegt werde (und nicht im Tübinger Rathaus).
2) Jemand von der Stuttgarter Basis der Grünen sagte, dass er sich lebhaft vorstellen könne, dass das Büro der Grünen in Flammen aufgehen könne, wenn man nach dem 27. März am Drücker sein sollte und S21 trotzdem kommt.
mein völliges Unverständnis gilt dem Ergebnis des Parteitages der Grünen in BW.
Warum wird da so rumgeeiert? Die Befürworter von S21 haben immer klar gemacht, dass sie mit der "Schlichtung" erreichen wollen, dass den Gegnern klar wird, dass S21 gut ist. Zwar für meine Beriffe arrogant, zumal sie um keinen Preis davon abgehen werden. Man sollte sich fragen, welche Interessen wo im Raum stehen?!!!!?
Herr Geisler war von Mappus ja nur ins Spiel gebracht worden, um sein schlechtes Image nach dem (sehr wahrscheinlich von ihm veranlaßten) Debakel der Polizeiübergriffe am 30. September zu verwischen.
Tja, was soll ich sagen?... Der oben im Artikel beschriebenen "Raffinesse" wird weiter fröhlich gefrönt; gestern vor 50.000 Demonstranten machte das Grüne Märchen, dass S21-plus an sich selbst ersticken werde, wieder mal und sehr öffentlich die Runde. Gefeierter Märchenonkel diesmal: Boris Palmer.
Wie war das noch im Saarland? "Wer Grün wählt, wird sich Schwarz ärgern"
Ich dachte, ich hör nicht richtig: "Egal was jetzt noch gebaut wird - am Ende wird wenigstens ein funktionierender Bahnhof stehen" sagte Palmer mit Blick auf den am besten funktionierenden Kopfbahnhof Europas.
"Egal was jetzt noch verbessert wird an Stuttgart 21 - es bleibt ein Verbrechen" - das hätte er sagen müssen! Aber das kann er als real existierender Bürgermeister wohl nicht tun.
Der Tiefbahnhof erledigt sich nicht von selbst! Der Spuk wird erst aufhören, wenn unsere Kraft stärker ist als deren kriminelle Energie.