"Gauck hat bewiesen, dass er lernfähig ist"

Im Gespräch Der Schriftsteller Navid Kermani darüber, warum er den rot-grünen Bundespräsidentschafts-Kandidaten wählt, und warum dieser sich mehr Pathos erlauben darf, als ein Literat

freitag.de: Herr Kermani, sind Sie aufgeregt?

Navid Kermani:

Ja. Die Wahl des Bundespräsidenten ist das zentrale politische Ritual des Staates. Das nehme ich ernst. Der Akt lebt von seiner reinen Symbolik, aber gerade das mag ich an ihm. Die Republik begeht damit ihren eigenen Status als Republik.

Moment, da ist doch auch noch Machtpolitik dabei. Will nicht gerade ein rot-grünes Bündnis einen Kandidaten Joachim Gauck gegen den Kandidaten Christian Wulff der schwarz-gelben Regierung durchdrücken und diese dadurch beschädigen, vielleicht kippen?

Natürlich haben machtpolitische Erwägungen SPD und Grüne bewogen, Joachim Gauck aufzustellen. Aber sie haben damit einen Kandidaten gefunden, der mit seiner Biographie und seiner Gabe zur Rede dafür steht, dass das demokratische Fundament der Gesellschaft sich erneuern kann. Der politische Betrieb, den wir kennen, schottet sich ab, das ist wohl auch natürlich und war in Bonn wahrscheinlich nicht anders. Gauck steht dafür, dass der Staat nicht einer Kaste gehört, sondern seinen Bürgern. Das muß immer wieder neu ins Bewusstsein gerückt werden und tut gerade jetzt Not, da immer weniger Menschen die Entscheidungen nachvollziehen können, die innerhalb kürzester Zeit getroffen, aber noch für Generation prägend sein werden.

Glauben Sie, der so überparteiliche Gauck hätte für Rot-Grün antreten dürfen, wenn wir gerade rot-grün regiert würden?

Vermutlich nicht. Gauck ist vom ganzen Habitus her kein Linker. Aber was soll's? Er ist eben ein unabhängiger Kandidat. Er ist glaubwürdig, wenn er sagt, dass er keinen parteipolitischen Vorgaben folgt, und sich politischen Sachzwängen entzieht. Genau damit gibt er dem Amt die Würde zurück, die ihm von der Verfassung auch zugeschrieben ist.

SPD und Grüne haben genüsslich auf den Party-Effekt dieser Gegenkandidatur gesetzt – mit Unterstützungsfete und Facebook-Kampagne und allem Drum und Dran. Erkennen Sie das Werk der Spin-Doktoren dahinter?

Ich glaube nicht, dass SPD und Grüne die Wirkung der Kandidatur im Detail so absehen konnten. Dass Gauck so sehr die Sehnsucht vieler Menschen verkörpern würde, muss auch den Grünen zu denken geben, die ja einmal als Bürgerbewegung begonnen haben. Dass diese Art Bürgerbewegung noch funktioniert, ist für uns alle mit Blick auf den wachsenden Populismus in europäischen Nachbarländern eine wichtige Lehre. Es gibt offenbar immer noch viele Menschen, die bereit sind, für die Offenheit unserer Gesellschaft zu streiten.

Was hat die beeindruckende Biographie, von der Sie und fast alle bei SPD und Grünen reden, eigentlich mit der Aufgabe eines Bundespräsidenten zu tun?

Das Amt des Bundespräsidenten lebt durch die Kraft des Wortes und des Geistes. Wir hatten eine Reihe von Präsidenten, an denen sich beobachten ließ, was passiert, wenn ein Kandidat darüber nicht verfügt. Gauck aber ist der erste seit Richard von Weizsäcker, der dem Amt diese Orientierung zurückgeben könnte. Vielleicht empfinde ich mit meinem iranischen Hintergrund sogar stärker als mancher eingeborene Westdeutsche, was Gaucks Begriff von Freiheit bedeutet, und warum er so kostbar ist. Es gibt in der westdeutschen Gesellschaft in meiner Generation, aber auch in der Generation der aktiven westdeutschen Politiker keine unmittelbare Erinnerung mehr an fundamentale Unfreiheit. Aber wer etwa die Dinge im Iran verfolgt, wessen Freunde im Gefängnis sind oder nichts veröffentlichen dürfen, weiß, dass Freiheit überhaupt nicht selbstverständlich ist. Bei Gauck können Sie diese biographische Verzweiflung darüber noch spüren, was Unfreiheit ist, und warum der Grundwert der Freiheit mit Blick darauf, was außerhalb Westeuropas passiert und innerhalb Westeuropas immer wieder passieren könnte, in das Bewusstsein der Menschen zurück muss. Hier spielt auch sein Alter hinein, seine Lebenserfahrung ist auch mit Blick auf den Krieg für die nachfolgenden Generationen wertvoll.

Gaucks Freiheitsbegriff hat viel damit zu tun, die Menschen vom fürsorgenden Vater Staat zu lösen. Mit Sozialsystemen hat Gauck wenig am Hut. Fällt er damit auch aus dem aktuellen Grünen-Trend nicht ein bisschen heraus?

Das kann schon sein. Bei einem Kandidaten, der augenscheinlich die Fähigkeit hat, viele zu einen, muss man doch auch Abstriche machen dürfen. Mein idealer Kandidat müsste natürlich nachplappern, was ich so vor mich hindenke, aber dann würde ihn keiner aufstellen. Aber Gauck hat bewiesen, dass er lernfähig ist. Selbst in den letzten Tagen noch hat er sein Spektrum erweitert.

In Ihrem Buch „Vierzig Leben“ zeigen Sie überdeutlich, was Sie von der inflationären Verwendung solch großer Begriffe wie „Würde“ und „Freiheit“ halten. Sie „zersägen“ solche „Königsworte“ und „schmeißen sie gegen die Wand“, heißt es im Klappentext. Der Kandidat für die Bundespräsidentschaft Joachim Gauck ist ein ganz großer Verwender solcher Königsworte, nicht wahr?

Das mag schon sein. Ich habe ja auch seine Biographie gelesen – als Lektor hätte ich da an der einen oder anderen Stelle auch angesetzt. Gaucks Pfarrer-Leben in der DDR ist mir grundsätzlich auch sehr fern, ebenso sein Protestantismus. Aber in einer Zeit, da Politik – inzwischen leider auch bei den Grünen – meist nur auf die jetzige Wahlperiode, inzwischen sogar nur auf die nächsten Wochen ausgerichtet zu sein scheint, in der sich keiner fragt, wie das Leben in zwanzig Jahren etwa aussehen soll, prägt Gauck auch sehr wichtige Begriffe: Altruismus, Hilfsbereitschaft, Verzicht, Engagement. Der Wert von Europa auch, über den abfällig zu reden in der aktuellen Euro-Krise so gängig ist. Ich finde, ein Bundespräsident soll da auch andere Worte benutzen als ein Schriftsteller und meinetwegen sich einen Pathos erlauben, der in einem literarischen Werk gebrochen werden müsste.

Finden Sie, die Linksfraktion und ihre Wahlleute sollten für Gauck stimmen, wenn es einen dritten Wahlgang gibt?

Ja, absolut. Die Partei wird es bereuen, wenn sie es nicht tut. Sie hat eine große Chance, über ihren Schatten zu springen und auch mit ihren eigenen Ursprüngen ins Reine zu kommen. Gauck spricht über die DDR ja nicht aus taktischen Erwägungen so schlecht. Er hat das Anti-DDR-hafte eben... eingesogen. Als Politiker würde er sich in diesen Wochen hier und dort sicher diplomatischer äußern, um die Stimmen der Linken für sich zu gewinnen. Aber er tut es nicht, und hier genau könnte die Linke ihre Größe zeigen beziehungsweise finden: bei allen Differenzen im dritten Wahlgang zu sagen, dass es der bessere von zwei möglichen Kandidaten ist. Die Versuche der Linkspartei, Gauck jetzt moralisch zu diskreditieren, widern mich um so mehr an. Ich gehöre zu denen, die Oskar Lafontaine bei allen Irritationen und Enttäuschungen immer noch bewundern, aber was er zur Privilegierung Gaucks durch die Stasi gesagt hat, war so abstoßend wie seinerzeit sein Wort von den Fremdarbeitern.

, geboren 1967, freier Schriftsteller und habilitierter Orientalist in Köln, wurde von den hessischen Grünen als Wahlmann in die entsandt, die am Mittwoch ab 12 Uhr den Bundespräsidenten wählt. Kermanis letzte Veröffentlichung: "Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime". München 2009Navid KermaniBundesversammlung

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