Grüne Angstlust

Höhenflug Der Parteitag in Freiburg wird zum Einschnitt: Plötzlich fragen sich auch die Grünen, ob ihre Pläne umsetzbar sind. Ausgerechnet der linke Flügel mahnt zu Realismus

Seit Wochen schon raunen Grünen-Spitzenkräfte sich und den umgebenden Pressevertretern zu, dass die neue, in Umfragen gemessene grüne Wichtigkeit große Gefahren mit sich bringt. Wer 20 statt zehn Prozent Wählerstimmen auf die politische Waage bringt, werde entsprechend stärker bekämpft. Man müsse sich rüsten. Auf das Schlimmste gefasst sein. Mit Medieneffekten rechnen: Die Zeitungen schrieben Menschen wie Phänomene hoch, um sie alsbald umso genüsslicher herunterzuschreiben.

Die Attacken ließen in der Tat nicht lange auf sich warten. Die Financial Times Deutschland titelte kürzlich: „Höchste Zeit zu hinterfragen, was diese Partei so alles plant“, und schrieb: Ein Komplettumstieg auf Ökostrom bis 2030 „ist ein Wahnsinn“. Die Energiewende werde Bürgerfreiheiten abschaffen: „Eine Ölheizungssteuer würde nicht mehr reichen, die Dinger sollen weg.“ Wenige Tage später griff die Berliner Boulevard-Zeitung BZ eine der wenigen konkreten Ankündigungen der frisch erkorenen grünen Kandidatin fürs Bürgermeisteramt Renate Künast auf. Tempo 30 innerorts? „Die Grünen: Anti-Auto-Diktatur?“

Dass Wirtschafts- und Boulevard-Presse beginnen, Grünen-Pläne ernst zu nehmen, löst bei den Gemeinten einen „Ich-habs-euch-ja-gesagt!“-Effekt voller Angstlust aus. Viele der Delegierten, die Ende dieser Woche zum Parteitag nach Freiburg reisen, haben die Erinnerung an jenen Parteitag im Gepäck, als die Grünen 1998 in Magdeburg für eine Anhebung des Spritpreises auf fünf Mark stimmten und sich auf der Zielgerade zum rot-grünen Wahlsieg noch einmal alle öffentlichen Kräfte gegen sie verbündeten.

Sozialpolitik zweitrangig

Dieser Parteitag in Freiburg wird für die Grünen voraussichtlich zum Scheitelpunkt ihrer Oppositionsexistenz. Eigentlich steht nichts sonderlich Spannendes auf der Tagesordnung. Die eine oder andere Kandidatur für Bundesvorstand und Parteirat wird dazu taugen, die Sortierung der beiden Flügel zu überprüfen: Gelingt es den Linken erneut, den Realos eine lange Nase zu drehen? Inhaltliche Weichenstellungen stehen nicht bevor.

Doch ab jetzt kommt der stress test für das Erreichte. Die Rede von einer neuen Verantwortung wird den Parteitag bestimmen und eine kleine Ära beenden, in der die Partei ihr Programm nach links gebürstet hat. Das neue grüne Gewicht zerrt ab sofort wie Blei an den Konzepten für Green New Deal, Energiewende, Kindergrundsicherung, Bürgerversicherung und Hartz-IV-Aufstockung. Es wird sich zeigen, wo das Gewebe als erstes reißt: bei den Kosten für die Sozialreformen? Bei den Fristen für die Energiewende? Fraktionschef Jürgen Trittin kündigte vergangene Woche im Freitag erstmals „schmerzhafte Prioritätenentscheidungen“ für den Fall einer Regierungsbeteiligung ab 2013 an. Diese Bewegung vom Wortführer des linken Flügels kommentiert die Reala Krista Sager süffisant: „Trittin fängt an zu artikulieren, was von vielen schon seit Jahren angemahnt wird.“ Es werde Zeit, „die eigenen Vorstellungen von Haushalt an das anzupassen, was man selbst für Realität hält.“

Egal wie diese Anpassung bis zum Wahltag 2013 ausfällt, sie könnte das Polster an Glaubwürdigkeit, das die Grünen sich seit 2005 geschaffen haben, spalten wie ein Axthieb. Groß genug ist der Anteil der potenziellen und tatsächlichen Wähler, die sich aus Enttäuschung über die Sozialpolitik unter Kanzler Gerhard Schröder von der SPD abgewandt haben. Von den Grünen denken sie nun eher als von der SPD, dass es mit ihnen kein zweites Hartz IV geben wird. Das könnte auch damit zu tun haben, dass die Grünen sich früh zur Forderung nach 420 Euro Arbeitslosengeld II (aktuell: 359 Euro) durchgerungen haben, während die SPD eine derart konkrete Festlegung seit Jahren zu vermeiden sucht, um keine Hoffnungen zu wecken.

Auf dem Parteitag in Freiburg wollen die Grünen außerdem dem Konzept einer Bürgerversicherung in der Gesundheit Kontur – und damit Zahlen verleihen: Die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf 5.500 oder 4.200 Euro mag den meisten gesetzlich Versicherten gegenwärtig gänzlich egal sein. Doch wer solche Summen benennt, macht sich für den politischen Gegner und die Lobbys ebenso angreifbar, wie er Raum für Enttäuschungspotenzial schafft. Was im Moment oft wie ein Spezialistenthema aussieht, entpuppt sich oft genug als Bombe mit Spätzünder.

Schwer zu messen, aber aus Sicht auch vieler linker Grüner mindestens ebenso groß wie der Anteil sozialpolitisch Enttäuschbarer ist der Anteil jener neuen Anhänger, die Sozialpolitik zwar wichtig, im Zweifel aber zweitrangig finden – hinter den Weltrettungsfragen von Energie, Klima, Umwelt. In diesem Markenkern der Grünen verbirgt sich allerdings gleich ein doppeltes Vermittlungsproblem: Soziapolitische Einschränkungen erweisen sich am Ende doch stets als verkäuflich. In der Klimapolitik dagegen wollen die Grünen einerseits die um Auto und Standort besorgten Interessengruppen auf Abstand halten, und gleichzeitig den Wunsch nach Radikalität sowohl in eigenen Reihen als auch in der Umweltbewegung befriedigen.

Kein kontroverses Wort

Künasts Tempo-30-Zone stellt in der Tradition des Fünf-Mark-Beschlusses deshalb ein viel größeres Risiko dar als etwa Hartz IV-Sätze. Sie wird derartige Tretminen fortan zu umgehen suchen, schließlich tritt sie in Berlin nicht umsonst unter dem Motto „für alle“ an. Schon im Sinne ihres Wahlkampfes und der anderen Landtagswahlen 2011 hat auch das Realo-Führungspersonal kein Interesse, finanzielle Grenzen oder andere Dilemmata auszubuchstabieren. Von Parteichef Cem Özdemir wurde seit Monaten kein kontroverses Wort mehr vernommen: Niemand soll vor den Kopf gestoßen, aus allen anderen Wählerreservoirs ein Maximum an Zuspruch abgeschöpft werden.

Mit dieser politischen Benutzeroberfläche können Grüne wie Hermann Ott, der 2009 vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie in den Bundestag wechselte, gut leben. Die von vielen als Widerspruch empfundene Kombination aus weißen Hemden unterm teuren Anzug einerseits und Castor-Demonstrationen samt weitreichenden energiepolitischen Plänen andererseits nennt er „kognitive Dissonanz“, sie macht ihm Spaß.

Bei Ott klingt es, als sei der satte, glatte, bürgerliche Habitus der Grünen nur eine Tarnung, um Mehrheiten für eine unabwendbare, zumutungsreiche Politik im Zeichen des Klimawandels zu gewinnen. Andere warnen eher davor, den Gegensatz zwischen satter, glatter Bürgerlichkeit und radikalen Forderungen weiter zuzuspitzen – so würde bloß der neuerliche Verrat am Programm vorbereitet. „Die Fallhöhe darf nicht wieder so groß werden wie nach 1998“, formuliert der linksgrüne Gelsenkirchener Robert Zion. Die Linken sind die neuen Realos.

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Geschrieben von

Ulrike Winkelmann

Ressortleiterin Politik

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