Hartz IV: Behinderte zahlen drauf

Arbeitslose Bundestag und Bundesrat reichen Hartz-Reformpaket durch. Einer der größten Skandale zeichnet sich erst jetzt ab: Behinderten werden die Leistungen um 20 Prozent gekürzt

Um kurz nach neun hat heute der Bundestag, um viertel vor eins dann auch der Bundesrat den „Hartz IV-Kompromiss“ gebilligt. Damit sind die wochenlangen Verhandlungen um die Leistungen für Arbeitslose, die dem Wahlvolk immer weiter die übernächtigten und wieder zurechtgezupften Gesichter vor allem der Chef-Unterhändlerinnen Ursula von der Leyen (CDU) und Manuela Schwesig (SPD) auf den Fernseh-Bildschirmen einbrachten, zu einem Ende gekommen. Ergebnis: Bekannt, beschämend, und sicherlich nicht haltbar.

Fünf Euro mehr an Regelsatz, mit drei Euro plus zum kommenden Jahr, das wird nicht nur nach Einschätzung der Linkspartei und der Grünen bald wieder vorm Bundesverfassungsgericht behandelt werden müssen. Wie sich die immerhin 1,6 Milliarden Euro pro Jahr schweren Leistungen für Kinder künftig über die Republik, über die Kommunen, zwischen Stadt und Land aufteilen werden, darauf dürfen die 1,8 Millionen Kinder aus Hartz IV-Familien sehr gespannt sein. Die Kommunen haben jedenfalls schon einmal angedeutet, dass es einige Zeit brauchen wird, bis sie die entsprechende Infrastruktur aufgebaut haben.

Ein besonderer Skandal im Vermitlungs-Ergebnis soll hier aber einmal noch hervorgehoben werden: Erwachsene Behinderte, die bei ihren Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben, sollen tatsächlich nur noch 80 Prozent vom Regelsatz erhalten. Das entspricht einer Kürzung um rund 70 Euro.

Nachdem die schwarz-gelbe Koalition dies im vergangenen Herbst beschlossen hatte und das große Ziehen und Zerren zwischen Opposition und Regierung sich anbahnte, gab es Unions-Politiker, die etwas kleinlaut sagten, das sei eigentlich nicht so nett. Man werde die Gelegenheit nutzen, das rückgängig zu machen. Die SPD sagte ebenfalls, dabei dürfe es nicht bleiben. Doch nichts da: Im abschließenden Deal steht bloß die Notiz, man wolle die Sache mit den 80 Prozent „überprüfen“. Die Linksfraktions-Politikerin Katja Kipping vermutet, dazu wolle die Regierung die nächste Einkommens- und Verbrauchsstichprobe abwarten. Das kann Jahre dauern.

Um es noch einmal zu sagen: Behinderte, die nicht allein leben können und daher offensichtlich auf Hilfsmittel aller Art angewiesen sind, die längst nicht mehr alle von der Krankenkasse bezahlt werden; Behinderte, die mit den Eltern zusammen leben, welche sich oft ihr Leben lang um ihr Kind kümmern und dafür sehr, sehr oft einen eigenen Beruf, entsprechende Einkünfte aufgegeben haben; Behinderte, das sind Menschen, denen selbst ein FDP-Politiker weder Faulheit noch Dekadenz unterstellen können wird – Behinderten also werden die Leistungen gestrichen, während man gleichzeitig den anderen Alg II-Beziehern immerhin ein klein wenig mehr geben möchte beziehungsweise muss.

Das ist eine Schande für alle in Bundestag und Bundesrat, die heute dazu ihre Ja-Stimme abgegeben haben.

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Geschrieben von

Ulrike Winkelmann

Ressortleiterin Politik

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