"Jetzt droht Psychiatrisierung"

Strafvollzug Der Justizexperte der Linksfraktion Wolfgang Neskovic zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung

Der Freitag: Herr Neskovic, das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Sicherungsverwahrung fällt ausgesprochen komplex aus. Gelingt Ihnen trotzdem eine erste Kurzbewertung?

Wolfgang Neskovic: Es ist auf jeden Fall eine große Niederlage für die Politik. Sämtliche Regelungen des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung sind verfassungswidrig. Die Politik hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Sie hat nicht alle Experten an einen Tisch geholt, um eine Reform aus einem Guss zu formulieren. Statt dessen hat sie sich auf gesetzliche Flickschusterei beschränkt, indem sie jeweils dem durch die Stammtische veranlassten Mediendruck nachgegeben hat. Dabei hat sie erkennbar menschenrechts- und verfassungswidrig gehandelt.

Warum sprechen Sie von "der Politik"? Wer ist gemeint?

Alle Koalitionen seit 1998, inklusive der Schwarz-Gelben noch unter Helmut Kohl. Obwohl die Kohl-Regierung selbst 1998 erklärte, sie sehe aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit der 10-jährigen Höchstfrist keine Veranlassung für einen Wegfall der Höchstfrist, haben die schwarz-gelben Bundestagsfraktionen die Höchstfrist gestrichen. Dazu hatte die öffentliche Stimmung nach dem traurigen Fall der Ermordung eines kleinen Mädchens geführt, obwohl es sich bei dem Täter nicht um einen einschlägigen Wiederholungstäter handelte.

Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die deutschen Regelungen angegriffen hatte, haben dann die Richter in ganz Deutschland sehr unterschiedlich darüber geurteilt, wer aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden müsse oder dürfe. Sind demnach außer der Politik nicht auch die Gerichte selbst von der Materie überfordert?

Das Problem liegt in erster Linie nicht bei den Gerichten, sondern beim Gesetzgeber. Dieser hat es unterlassen, die gesetzgeberischen Änderungen aus dem Jahre 1998 (Wegfall der 10-jährigen Höchstfrist) und von 2004 (Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung) wieder zurück zu nehmen. Hätte er durch die Rücknahme der Gesetze diesen Fehler eingesehen, hätte er sich die Schlappe vor dem Bundesverfassungsgericht ersparen können.

Sie fordern nun nachzuholen, was seit 1998 versäumt wurde: die Entwicklung möglichst objektiver Kriterien dafür, wann ein Täter noch als gefährlich zu gelten hat. Ist das nicht eine Illusion, dass die Psychiater ein sicheres Urteil darüber fällen können, wen man auf die Öffentlichkeit loslassen kann – und wen nicht?

Das Problem der Sicherungsverwahrung besteht darin, dass zukünftiges Verhalten nicht zuverlässig vorhersehbar ist. Auch Gutachter sind keine Hellseher. Dennoch soll Menschen auf einer so unsicheren Grundlage die Freiheit entzogen werden. Führt man sich weiterhin vor Augen, dass Untersuchungen ergeben haben, dass sich in neun von zehn Fällen die Prognosen von Sachverständigen über die zukünftige Gefährlichkeit eines Straftäters als falsch erwiesen haben, dann wird das gesamte Problem der Sicherungsverwahrung besonders deutlich. Vor diesem Hintergrund muss über die Prognose hinaus nach weiteren objektiven Kriterien gesucht werden, um das Risiko einer falschen Prognose rechtsstaatlich zu minimieren. Auch um diese Kriterien zu ermitteln, bedarf es der Einsetzung einer entsprechenden Expertenkommission.

Was ist denn dann jetzt aber mit den Fällen, die aktuell Wellen schlagen – Männer, die eben keinen Strafvollzug genossen haben, der auf Resozialisierung ausgelegt war, und die weitere Jahrzehnte in Sicherungsverwahrung gesessen haben, die wie Haft war, Männer also, die also auf Freiheit und Verantwortung nicht vorbereitet sind: Sollen die raus?

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte müssen sie raus. Das Bundesverfassungsgericht will jedoch einen geringen Anteil von ihnen unter ganz bestimmten engen Voraussetzungen weiterhin in Haft lassen. Das wäre mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nur dann vereinbar, wenn es sich um psychisch kranke Personen handelt, die aufgrund dieser Erkrankung gefährlich sind.

Das ist die Lücke, in die dann die Behörden und Gerichte – und im Effekt auch der Gesetzgeber nun stoßen werden, nicht wahr?

Ja. Es besteht die Gefahr, dass dann Täter, die man für gefährlich hält, allein schon deswegen psychiatrisiert werden.


Wolfgang Neskovic
(parteilos) war Richter am Bundesgerichtshof und ist heute Justiziar der Linksfraktion im Bundestag

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Geschrieben von

Ulrike Winkelmann

Ressortleiterin Politik

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