Verlierer des Jahrzehnts: Die Mittelschichten

Soziale Schere Eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW belegt: Arme werden nicht nur ärmer, es werden auch mehr. Indes wuchsen die Einkommen der Reichen im Jahr 2009 weiter

Es kann schon sein, dass das Vokabular der wirtschaftlichen Ungleichheit recht beschränkt ist und deshalb abgegriffen und klischiert daherkommt: Die Gesellschaft wird schon seit Jahren „gespalten“, die Armen werden schon länger „immer ärmer“, die Reichen „immer reicher“. Umso begrüßenswerter ist es deshalb, wenn die emsigen Rechner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin neue Zahlen und neue Erkenntnisse in die Diskussion einspeisen und sie dadurch aktuell beleben. Der am Dienstag veröffentlichte DIW-Wochenbericht handelt von der „Polarisierung der Einkommen“ und verkündet im Titel: „Die Mittelschicht verliert“.

Die Daten der DIW-Mitarbeiter Jan Goebel, Martin Gornig und Hartmut Häußermann sind eindeutig: Die Einkommens-Mittelschicht schrumpft zugunsten der unteren wie der oberen Einkommensschichten. Um den „Median“, das ist das mittlere Einkommen, herum wurden drei Klassen gebildet. „Unten“ ist weniger als 70 Prozent des Median, im Jahr 2005 etwa 860 Euro netto im Monat für einen Single. „Mitte“ sind mehr als 70, aber weniger als 150 Prozent des Median, im Jahr 2005 bis zu 1.844 Euro. „Oben“ sind Nettoeinkommen von mehr als 150 Prozent des Median, das waren 2005 also über 1.844 Euro im Monat. (Für entsprechende 2009er Werte müssten jeweils 7 Prozent hinzu gerechnet werden.)

Seit dem Jahr 2000, sagt Goebel, „beobachten wie eine sogenannte absolute Polarisierung: Es wurden in diesen unteren und oberen Bereichen nicht nur mehr Personen, sondern deren Einkommen hat sich auch noch auseinander entwickelt.“ Das heißt - und hier müssen Sprachästheten jetzt tapfer sein - „die Ärmeren wurden ärmer und die Reicheren wurden reicher.“ So stieg der Anteil der „Unten“-Haushalte von 17,8 Prozent im Jahr 2000 auf 21,7 Prozent im Jahr 2009 an. Gleichzeitig sank ihr durchschnittliches Nettoeinkommen inflationsbereinigt von 680 Euro auf 645 Euro in 2008. Die „Mitte“ schrumpfte seit 2000 von 66,5 auf 61,5 Prozent der Haushalte. Der Anteil der „Oben“-Haushalte ging zwar im Krisenjahr 2009 erstmals ganz leicht zurück, aber vergrößerte sich der Einkommensvorsprung dieser Haushalte gegenüber der Mitte „nochmals spürbar“, schreiben die Autoren.

Grundlage der DIW-Berechnungen ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), ein aus Haushaltsbefragungen zusammengetragener Datenberg beim DIW, der in vielen Teilen genauer und wissenschaftlich besser verwertbar ist als etwa das Material des Statistischen Bundesamts. Das Verdienst nun der aktuellen Studie ist, dass sie nicht allein den seit Jahren beobachteten Zuwachs der Armen wie der Armut vermisst, sondern auch zeigt, wie die Abstände zwischen den Einkommensgruppen gewachsen sind. Diese Polarisierung der Einkommen, schreiben die Autoren, erfolgt in Schüben. Ein erster Höhepunkt war Mitte der 1990er Jahr erreicht, dann nahm die Polarisierung sogar leicht ab, um aber 2000 bis 2006 „sprunghaft“ anzusteigen.

Die Autoren erklären, dass der Aufstieg einiger in die oberen Schichten, der Abstieg vieler in die unteren Schichten bei den betroffenen Mittelschichten das auslösen könne, was als Statuspanik bezeichnet werde. Würden andere Bevölkerungsgruppen für den entstandenen oder drohenden Status-Verlust verantwortlich gemacht, trage dies „zur Ausbreitung von diskriminierenden Einstellungen“ bei und gefährde so „die Stabilität demokratischer Entscheidungsprozesse“.

DIW-Forscher Goebel kritisiert, dass das „Sparpaket“ der Bundesregierung nur die unteren Einkommensbereiche betreffe. Er sagt: „Wenn man den Trend sieht, den wir beobachten, dann muss man fragen: Warum sollen eigentlich die Menschen mit den hohen Einkommen keinen Sparbeitrag leisten?“

Dem ist wenig hinzuzufügen. Fürs Erste.

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Geschrieben von

Ulrike Winkelmann

Ressortleiterin Politik

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