Die Europäische Union hält unbeirrbar Kurs. Ihr Konstruktionsmodell wird zugleich von den Völkern Europas mehr und mehr abgelehnt, die sich in Italien, in Österreich, in Polen und in Ungarn dem Nationalismus oder neofaschistischen Bewegungen zuwenden. Angesichts der Krise, in der sich Europa demokratisch, politisch und existenziell befindet, würde die von Emmanuel Macron postulierte „Neugründung“ Europas bloß die bestehenden Missstände weiter verschärfen.
Zur Person

Étienne Balibar ist ein französischer Philosoph und bekannter Denker des Postmarxismus. Zuletzt erschien von ihm Europa: Krise und Ende? im Verlag Westfälisches Dampfboot
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Vadim Kamenka: Gegenwärtig erleben wir bei jeder Wahl in Europa ein weiteres Voranschreiten von nationalistischen und fremdenfeindlichen Kräften. Sie kommen auch schon an die Regierung – wie jetzt in Italien. Warum ist das so?
Étienne Balibar: In dieser Folge von Ereignissen, die schon seit Jahren im Gange ist, kommt eine Krise zum Ausdruck, welche den Aufbau Europas in seiner gegenwärtigen Gestalt in Frage stellt und zweifellos irreversibel ist. Diese Krise ergreift nun, von immer denselben Momenten bewegt, ein Land nach dem anderen. Die Auswirkungen der Austeritätspolitik auf die Mittelklassen und die Klasse der Armen, sowie die Ausbreitung und Ausweitung der sozialen und territorialen Ungleichheiten sind nur die logische Folge des sogenannten „freien und unverfälschten Wettbewerbs“. Aufgrund des Elends, das die technokratische Regierungspraxis in der EU und in den Mitgliedstaaten selber hervorruft, kommt es zu einer Verfestigung dieser beiden Momente. Das gibt dann wiederum dem Nationalismus, der Fremdenfeindlichkeit und dem Hass auf die Demokratie weitere Nahrung.
Aber seit der Griechenland-Krise und dem Brexit muss man auch festhalten, dass es weder möglich ist, wirklich die Union zu verlassen, noch einen Mitgliedstaat von ihr auszuschließen. Offensichtlich gibt es zwar politische Kräfte, die davon überzeugt sind, das Europa der EU verlassen zu können. Aber keine Regierung ist wirklich dazu in der Lage, dies dann auch durchzusetzen. Da es aber kein Projekt einer politischen Alternative gibt, das von einzelnen Menschen oder auch von neuen politischen Kräften oder Strömungen getragen würde, befürchte ich, dass wir in Europa auf eine Situation des Zerfalls und der wechselseitigen Neutralisierung der hegemonialen politischen Kräfte zusteuern, deren Konsequenzen gänzlich unvorhersehbar sind.
Ist es möglich, dass es jetzt in Bezug auf Italien zu derselben Art von heftigem Clinch kommt, wie er gegenüber Griechenland praktiziert worden ist?
Die von Jean-Claude Juncker abgegebenen öffentlichen Erklärungen sind hier sehr aufschlussreich: Er spricht davon, den Irrtum vermeiden zu wollen, den man gegenüber Griechenland begangen habe. Von welchem Irrtum spricht er? Von dem eigentlichen, grundlegenden – nämlich der absichtlichen Zerstörung einer Volkswirtschaft und einer Gesellschaft – oder bloß von dem formellen Irrtum, der darin gelegen habe, dass man die erforderlichen Verfahrensweisen nicht hinreichend beachtet habe? Die führenden Köpfe Europas wissen wohl, dass sie die politische Entscheidung der Italiener nicht derart offen missachten können, wie sie dies bei den Griechen getan haben. Aber ich finde, es ist auch durchaus als bedeutungsvoll zu beachten, dass sie gerne einen Konflikt mit der extremen Rechten – wie in Österreich – vermeiden möchten, welchen sie mit einer linken Regierung – wie in Griechenland – durchaus mit Absicht gesucht haben.
Beziehen sich die Vorschläge für eine Neugestaltung Europas, wie sie Emmanuel Macron als Präsident oder Angela Merkel als Kanzlerin vorgelegt haben, überhaupt auf das gesamte Ausmaß der Krise Europas?
Gibt es denn überhaupt einen Plan? Sie betreiben doch nur eine Neuverpackung der europäischen Politik. Wenn es ihnen aber nur darum geht, einmal mehr zu proklamieren, dass die Völker Europas ein gemeinsames Geschick teilen, dann wird das nicht sehr weit tragen. Der eigentliche Kern des Problems liegt doch in den Wirtschafts- und Finanzstrukturen. Die Banken hat man bereits konsolidiert. Das neuerliche Projekt, den europäischen Stabilitätsmechanismus – als Mechanismus einer minimalen Solidarität – zu einem europäischen Währungsfonds zu entwickeln, nimmt sich die Regeln des Internationalen Währungsfonds (IWF) zum Vorbild. Und die Deutschen und die Niederländer sind immer noch nicht dazu bereit, einen gemeinsamen Haushalt zu akzeptieren, ohne dass ihnen garantiert wird, dass es zu keinen Transferzahlungen an schwächere Länder kommen darf. Seit der Krise von 2008 haben uns die Wirtschaftswissenschaftler immer wieder eingeschärft, dass man eine gemeinsame Währung nicht ohne ein gemeinsamen Haushalt inszenieren kann. Aber die Deutschen akzeptieren nur marginale Anpassungen – und es ist durchaus wahrscheinlich, dass auch die französische Regierung sich letztlich in die gleiche Richtung bewegt. Das läuft darauf hinaus, dass die Souveränität der europäischen Finanzinstitutionen als solche festgeschrieben wird, anstatt eine europäische Solidarität zu verstärken, indem man der Konkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten der EU und den europäischen Produzenten gewisse Schranken setzt.
Das europäische Projekt, wie man es sich vorstellt, verfolgt ganz gewiss nicht das Ziel, der Aufteilung Europas in unterschiedliche Bereiche entgegenzuwirken, die ökonomisch in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen – also in solche Bereiche, die für ausländische Kapitalien von Interesse sind, Bereiche, in die sich Unteraufträge vergeben lassen, Bereiche, die einfach billige Arbeitskräfte liefern oder auch solche Bereiche, in denen Bourgeoisie und Kleinbürgertum ihre Ferien verbringen können. Was heute in Griechenland geschieht, ist frappierend: Löhne und Renten sind zusammengebrochen und die Tourismusindustrie läuft auf vollen Touren. Die ökologischen und soziologischen Konsequenzen sind erschreckend.
Macron beruft sich auf die Notwendigkeit, den Aufstieg der extremen Rechten zu bekämpfen.
Ich finde es wirklich erschreckend, dass es im europäischen Parlament keine Debatte über die Krise gibt, in der sich der Aufbau Europas befindet. Das wäre dann vielleicht ja auch eine schreckliche Kakophonie – man müsste sich von Seiten der populistischen Kräfte, die zum Teil bereits in einzelnen Mitgliedstaaten an der Regierung sind oder doch schon dorthin drängen, faschistoide Diskurse anhören. Aber die Krise des Systems besteht eben auch in der Abwesenheit von Demokratie. Je tiefer man in den Sumpf der Krise einsinkt, desto mehr werden die Technokraten erzählen, dass man doch auf keinen Fall den Völkern das Wort geben dürfe. Sie fürchten nämlich, dass dadurch ihre Handlungsfähigkeit gelähmt würde. Aber was machen sie denn wirklich aus dieser Lage? Ich frage mich, wann dann wohl der Moment kommen wird, in dem die Probleme Europas auf der europäischen Ebene öffentlich diskutiert werden – und eben nicht mehr nur in kleinen Beratungsrunden von der Kommission und den Regierungschefs. Die Entwicklung der Lage ist hinreichend besorgniserregend, um eine Debatte im Europäischen Parlament darüber einzufordern – ohne darauf zu warten, dass sich Macron und Merkel zuvor unter sich auf ein Minimalprogramm verständigt haben.
Macrons Projekt der „Neugründung“ Europas wird nicht erreichen, Europa aus seiner gegenwärtigen Krise heraus zu führen. Wir sollten damit aufhören, die heuchlerische These zu verbreiten, welche die Öffentlichkeit glauben lässt, es gebe in der EU auf der einen Seite diejenigen, die zahlen, und auf der anderen Seite solche, die kassieren. Als ob die deutschen, niederländischen oder französischen Steuerzahler*innen Südeuropa subventionieren würden – diese These ist nun wahrhaft „populistisch“. Alle Gläubigerländer profitieren nämlich von den Lohnunterschieden und von den unterschiedlichen Zinssätzen. Wenn Deutschland überall hin exportiert, dann liegt das davon, dass es einerseits zu seinen nationalen Bedingungen produziert, andererseits aber auf dem Weltmarkt mit einer Währung verkaufen kann, die eben nicht sonderlich stark ist. Daraus ergibt sich, dass die deutschen Kapitalisten gegen jede Änderung des 1992 unterschriebenen Vertrags von Maastricht sind. Denn dabei geht es um die Grundlage ihrer Vorherrschaft in Europa. Macron ist es niemals in den Sinn gekommen, diese Vorherrschaft zu thematisieren und anzugreifen.
Quer durch Europa scheinen aber die Kräfte der Linken in dieser politischen Debatte keine Rolle zu spielen. Woran liegt das?
Wenn es wirklich dazu kommen soll, dass sich wieder eine Linke konstituiert und aufbaut, dann ist es notwendig, dass dies in einer Vielzahl von Ländern gleichzeitig geschieht und dass sie sich – trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten – als eine europäische Linke begreift. In diesem Sinne scheint mir der Gedanke eines transeuropäischen Wahlkampfs, wie ihn Varoufakis in die politische Debatte eingebracht hat, völlig richtig zu sein. Man wird die politische Debatte von ihrem gegenwärtigen Schranken befreien und auf die Ebene der europäischen Bürger*innen hinunter bringen müssen. Aber das wird nicht von selber geschehen. Viele von uns haben ja geglaubt, dass die von oben betriebene Vereinigung Europas einen hinreichend starken Zwang ausüben würde, sodass die politische Debatte über die Grenzen hinweg reichen würde – wo doch so viele Hindernisse im Weg stehen: die Sprache, die unterschiedlichen politischen Kulturen, die Krise der politischen Organisationen, der Aufstieg der Technokraten zur Macht und das Monopol der nationalen politischen Klassen. All das zusammen hat nun aber bewirkt, dass sich die Menschen auf ihre angestammten Territorien zurückgezogen haben, welche ihnen doch geradezu beständig entgleiten. Und eben darauf beziehen sich die Diskurse, die sich auf demagogische Weise auf die nationale Vergangenheit berufen. Aber die Linke steht vor der Aufgabe, sich der wirklichen Welt zu stellen.
Unser Irrtum als Linke hat auch darin bestanden, dass wir geglaubt haben, dass der Aufbau Europas die nationale Frage als veraltet erledigen oder auch nur relativieren würde. Die gegenwärtige Krise beweist das Gegenteil: der Nationalismus ist keineswegs das Privileg einer bestimmten Nation oder bestimmter Regionen. Die rein negative Auffassung der eigenen nationalen Interessen ist heute in Europa eben das, worin sich eigentlich alle einig sind. Es gibt einfach kein Land mehr in Europa, das nicht befürchten würde, von seinem Nachbarland ausgebeutet oder im Globalisierungsprozess aufgelöst zu werden – als dessen Instrument die EU dient.
Zeigt nicht das Beispiel des Flüchtlingsschiffs „Aquarius“, dass in unseren Gesellschaften ein Sieg des konservativen Gedankens und der nationalistischen Bewegung stattgefunden hat?
Die einzig Positive dieser erschreckenden Episode liegt darin, dass die Europäer*innen nicht länger so tun können, als ob es sich um ein rein italienisches Problem handeln würde. Seit Jahren legt etwa Frankreich eine abstoßend heuchlerische Haltung an den Tag. Man verteilt gerne moralische Belehrungen, aber von Calais bis zur italienischen Grenze verfolgt man die Migranten – und alle, die ihnen zu Hilfe eilen – durchaus brutal. Rechtsbrüche und Erniedrigungen schaffen eben jene „feindliche Umgebung“, welche die englische Regierung eingefordert hat. Was mich hier auch besonders empört, ist der Umstand, dass Frankreich nicht einmal jenes Zehntel an Flüchtlingen aufgenommen hat, zu deren Aufnahme es sich in dem Moment verpflichtet hatte, als Angela Merkel hunderttausende ins Land ließ. Am Ende des Tages hat auch die Visegrád-Gruppe kaum eine andere Politik betrieben. Sie ist nur einfach in ihrer Haltung offener.
Jeder stellt sich nun die Frage, wie man denn überhaupt alle Dimensionen des Problems austarieren kann. Ganz rational betrachtet gibt es – wenn wir die Zahl der Exilierten, die es aufzunehmen gilt, den Aufnahmemöglichkeiten der europäischen Länder in ihrer Gesamtheit gegenüberstellen – kein unlösbares Problem. Wir haben es keineswegs mit einer Invasion zu tun. Es ist erforderlich, die Mittel dafür bereitzustellen, um die Geflüchteten angemessen in Empfang zu nehmen, sie die Sprache erlernen zu lassen und ihnen dabei zu helfen, selber zurechtzukommen. Auf der anderen Seite nimmt inzwischen die Lage im Mittelmeer geradezu die Form eines Genozids an. Das ist ein wirklich starkes Wort, aber wie soll man denn sonst die Beseitigung von tausenden Individuen auf rassistischer Grundlage bezeichnen, die hier in Kauf genommen, vorausgesehen und schließlich doch durch Unterlassung organisiert wird? Es handelt sich um einen schleichenden Genozid, der nun aber keineswegs in einem abgeschlossenen Territorium stattfindet, sondern in dem Grenzraum zwischen den Staaten. Die Geschichte wird uns dafür noch zur Rechenschaft ziehen.
Was wären denn die hauptsächlichen Vorschläge, um wirklich Europa neu zu gründen?
Europa kann nur dann einen neuen Anfang machen, wenn es sich drei zentralen Fragen stellt: Erstens der Frage nach seiner Rolle im Zusammenhang der Globalisierung – kann Europa sie verändern und wie. Zweitens der Frage, ob es möglich ist, das Projekt eines sozialen Europas in Zeiten des Neoliberalismus zu erneuern, und auf welche Kräfte sich ein derartiges Projekt stützen könnte. Drittens der Frage, ob es denn möglich ist, ein neues Gleichgewicht zu finden zwischen der Repräsentation der Bürger*innen in ihrer Gesamtheit und einer Vertretung der Nationen und Nationalitäten – d. h. für Europa einen pluralistisch-föderalen, partizipatorischen und repräsentativ-demokratischen Rahmen zu erfinden. Jedes unserer Länder leidet an einer Pathologie der repräsentativen Demokratie – weil die formell konstituierten Gewalten sich nicht mehr an dem selben Ort befinden wie die wirklichen Mächte. Aber das Zeitalter der Repräsentation wird so lange nicht vorbei gehen, wie es überhaupt öffentliche Institutionen geben wird – in diesem Punkt hat der Philosoph Habermas Recht. Und man wird schließlich auch die Frage der europäischen Finanzen mit der der politischen Repräsentation des europäischen Volkes verbinden müssen.
Info
Französische Erstveröffentlichung in „L’Humanité Dimanche“ vom 21. Juni 2018. Ins Deutsche übertragen von Frieder Otto Wolf
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