Deutschland hat ein Gewichtsproblem

Nutri-Score Die Bundesregierung führt den Nutri-Score ein, um die Deutschen zu einer besseren Ernährung zu bewegen. Dabei ist dieses Ampel-System alles andere als hilfreich.

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Oft wird in den Medien der Hunger in der Welt thematisiert. Doch es gibt auch eine andere Seite. Denn in den reichen Ländern wird die gegenteilige Entwicklung zu einem zunehmenden Problem. So zeigt eine Datenerhebung des Landesverbandes der Betriebskrankenkassen (BKK) in Hamburg, dass Kinder und Jugendliche immer dicker werden.

Dieser langjährige Trend fällt vor allem bei der männlichen Bevölkerung auf und belastet zunehmend das Gesundheitssystem, denn in nur 20 Jahren hat sich die Zahl der extrem Fettleibigen in Deutschland verdoppelt. Die Diagnose: Adipositas

Persönliche und soziale Belastung

Etwa jeder vierte Deutsche leidet unter krankhafter Übergewichtigkeit. Die Folgen sind Einsamkeit, mangelnde Lebensfreude, Gelenkschäden, erhöhtes Risiko für Schlaganfälle, Diabetes sowie Begünstigung zahlreicher Krebsarten.

Mit manchmal mehr als 300 kg Körpergewicht können solche Menschen nicht mehr normal behandelt werden. Zur CT müssen sie wegen der schieren Dimensionen zu einem Veterinärmediziner, in Notfällen müssen Türen verbeitert bzw. Wände durchbrochen werden, um durch das Fettgewebe zu kommen benötigt man Spezialspritzen. Die Kosten trägt die Allgemeinheit.

Rechnet man Sekundärkosten hinzu, etwa wegen häufigeren Operationen, zahlreicher Medikamente, Therapien, Reha und Arbeitsausfällen etc., belaufen sich die Kosten auf ca. 27 Milliarden Euro im Jahr und damit gar 7 Milliarden mehr als zum Beispiel solche wegen Alkoholmissbrauchs.

Der Nutri-Score kommt…

Angesichts solcher Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass die Bundesregierung seit längerem händeringend nach Wegen gesucht hat, um Verbraucher besser über ihre Ernährung zu informieren und einen Lebensstil-Wandel herbeizuführen. Abhilfe soll nun der Nutri-Score bringen, dessen Einführung für 2020 im Oktober in Berlin beschlossen wurde.

Das Ampelsystem bewertet einzelne Lebensmittel nach den Inhaltsstoffen auf einer Skala von A-E. Der entsprechende Score ist farblich deutlich hervorgehoben und so für den Verbraucher leicht zu sehen. Diese bereits in Frankreich übliche Lebensmittelampel soll es Verbrauchern ermöglichen, besser zwischen gesunden und ungesunden Lebensmitteln zu unterscheiden.

Laut Bundesregierung waren zuvor verschiedene „Nährwert-Ampel“-Modelle geprüft worden. Und so wirft die Wahl von Nutri-Score einige Fragen auf, denn es ist alles andere als ein hilfreiches System.

…doch nagende Zweifel bleiben

Zum einen spielt das Nutri-Score-System den französischen Lebensmittelgiganten Nestlé und Danone in die Hände, die ihre Produktpalette bereits darauf eingestellt haben. Deshalb verwundert es kaum, dass Nestlé zu den ersten gehört, die Nutri-Score systematisch eingeführt sehen möchten. Und deutsche Discounter wie Aldi, Lidl und Rewe ziehen nach – angesichts des politischen Drucks, der vor allem aus Frankreich kommt, bliebt ihnen wohl auch nichts anderes übrig.

Zum anderen ist Nutri-Score ein sehr auf den französischen Markt bezogenes System, welches durch inhärente Voreingenommenheiten französische Lebensmittel oder Produkte bevorteilt und deutschen Waren – sowie solchen aus anderen Ländern wie zum Beispiel Italien – einen schlechteren Score verleiht. Dadurch wird, sollte Nutri-Score europaweit eingeführt werden, der wahre Nährwert verschiedener Produkte verzerrt – auf Kosten der Verbraucher, die nun durch irreführende Labels von keinem der Vorteile profitieren, die ihnen von der Politik und Industrie versprochen werden.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die Art und Weise, wie Nutri-Score die ausgewiesenen Zuckerbomben namens „Fruchtzwerge“ schönrechnen. Zufälligerweise wird das Produkt von Danone hergestellt und unter Anwendung des Nutri-Score, sind sie mit einem „B“ ausgestattet, dem zweitbesten Score auf der Ampel. Stattdessen werden Produkte wie Brot oder Kartoffeln als deutlich schlechter eingestuft.

Damit ist klar, dass vor allem Lebensmittelproduzenten wie Danone von solch einer verzerrenden Nährwerts-Ampel profitieren. In der Tat wird die Kritik, dass der Nutri-Score auf den französischen Markt abgestimmt sei und dadurch französische Produkte im Vorteil sind, ebenfalls vom deutschen Lebensmittelverband scharf kritisiert. Der Verband fordert nun weitrechende Änderungen, die erstens das System unter Aufsicht einer unabhängigen europäischen Institution stellen, und zweitens die Berechnugsgrundlagen des Scores mit Bezug auf den Inhalt von Obst- und Gemüseanteil eines Lebensmittels verbessern.

Tatsächlich ist es kritisch, wenn die Komplexität einer gesunden Ernährung auf einzelne Lebensmittel reduziert wird. Vielmehr müsse die Gesamtheit der Ernährung betrachtet werden. Lebensmittel nach wenigen wie die im Nutri-Score berücksichtigten Bestandteile wie etwa Salz, Zucker und Fett zu bewerten, mache keinen Sinn.

Fahler Beigeschmack

Selbst die französische Behörde für Lebensmittelsicherheit, Umwelt-und Arbeitsschutz steht Nutri-Score skeptisch gegenüber. Sie bezweifelt die Relevanz der Informationen, da Zusätze wie Farb- und Aromastoffe nicht berücksichtigt würden und auch die Herkunft nicht in die Bewertung einfließe.

Dennoch: auch wenn der Druck aus der Politik mehrere Handelsketten trotz aller Bedenken veranlasst, die Einführung des Scores vorzubereiten, ist eine sofortige, flächendeckende Implementierung noch nicht bei allen vorgesehen. Rewe etwa teilte mit, dass man noch abwarten wolle, bis ein verbindliches Regelwerk vorliege und auch bei Edeka verhält man sich noch abwartend.

Der Haken bleibt ohnehin, dass die Nutzung auf freiwilliger Basis erfolgt, deswegen bleibt es sehr fraglich, ob dieses System zu einer besseren Übersicht und zu einer gesünderen Ernährung führt. Es scheint so, dass die Einführung des Nutri-Scores ein stumpfes Schwert ist. Dass die Deutschen durch eine Lebensmittelampel, die nur einen Teil der entscheidenden Kriterien berücksichtigt, zu einer gesünderen Ernährungsweise finden, darf also durchaus bezweifelt werden. Am Ende mag dieser politische Schritt mehr Aktivismus als Überlegung sein.

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