Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan lässt den Zugang zu Twitter am 21.3.2014 in der Türkei sperren, weil er es für eine internationale Verschwörung hält, dass ihn kompromittierende Telefonmitschnitte dort verbreitet werden. Natürlich ist das Ganze ein lächerlicher Vorgang. Wie zu erwarten war, umgehen die Nutzer die Sperren oder weichen schlichtweg auf andere Plattformen aus. Das Internet in seiner Vielgestalt fordert den Nutzer bei Zensur geradezu dazu auf, sich andere Zugänge zur gewünschten Information zu beschaffen. Doch der Weg, in den die Politik in der Türkei weißt, ist höchst bedenklich. Sind es doch normalerweise in Bedrängnis geratende autoritäre Regime, die in den letzten Jahren auf die Idee kamen, das Netz mit Sperren zu belegen. Am weitesten ging dabei wohl Husni Mubarak, der Ägypten vom 27.1. bis 4.2.2011 komplett offline gehen ließ. Google und Twitter fanden jedoch auch hier Möglichkeiten zur Umgehung der Blockade.
Die Sorge Mubaraks und anderer Despoten ist freilich berechtigt. Es ist in der Tat eine Grundvoraussetzung für eine Veränderung autoritärer Herrschaftsverhältnisse, dass die Menschen erkennen, dass sie eine Stimme haben. Im Falle des Arabischen Frühlings kann man wohl behaupten, dass die technische Entwicklung die hierfür notwenige Kommunikation erst ermöglicht hat. Offensichtlich bieten die jedem zugänglichen und der staatlichen Kontrolle entzogenen Kommunikationswege von Facebook, Twitter & Co. noch nicht dagewesene Möglichkeiten, um die Legitimität der Herrschenden zu untergraben. Mit Hilfe sozialer Netzwerke können sich Demonstranten dezentral koordinieren und ihre Aktionen oder die Reaktionen von den Sicherheitskräften per Smartphone dokumentieren. Die Definitionsmacht des Regimes über das Geschehen wird gebrochen, da Regierungshandeln einerseits, wichtiger noch aber das Handeln der Regierten selbst überhaupt sichtbar wird. So können sich neue Kommunikationsarten durchaus zu einer realen Macht gegenüber staatlicher Repression auswachsen. Dass in China regelmäßig kontroverse Begriffe aus den Internet-Suchdiensten gestrichen werden, kann als Beleg dafür verstanden werden, dass den Herrschenden dieses revolutionäre Potential freien Informationsaustauschs im Netz nur allzu bewusst ist.
Immanuel Kant schreibt in seinem berühmten Aufsatz Was ist Aufklärung?: „Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten“ (Kant 1981: 60). Die Aufklärung durch Zensur oder immer gültige Dogmen zu verhindern sei dabei „ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht“ (ebd.: 58). Wenn neue Kommunikationswege die Zensurbarrieren durchbrechen können, entspricht das der Forderung Kants, sich seines Verstandes „ohne Leitung eines andern zu bedienen“ (ebd.: 53) und „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (ebd.: 55). Bei Twitter mag es natürlich sein, dass nicht alle Tweets immer völlig vernünftig sind. Ein Mix aus eventueller Anonymität und dem Versprechen totaler Öffentlichkeit führt dazu, dass mitunter auch halbwahre, reißerische oder beleidigende „Tweets“ gesendet werden, wohingegen wahre, neutral-abwägende und moralisch-gute Beiträge auch untergehen können. Doch genau dies zeichnet eine pluralistische Gesellschaft aus: Es gibt hier keine Instanz, die vorweg vermeintlich Unvernünftiges herausfiltert, stattdessen ist jeder und jede gefordert, die Realitätsnähe und Relevanz von Informationen selbst zu bewerten. Auch wenn es jetzt pathetisch wird: Dieses „selbst bewerten“ ist etwas, das nicht nur dem Follower bei Twitter abgefordert wird, sondern es ist auch eine staatsbürgerliche Tugend – woraus sich vielleicht auch erklärt, warum Twitter das Ziel von Zensurmaßnahmen werden kann. Man muss nur einmal die Unterstellung aussprechen, welche die Grundlage von Internetzensur bildet: Was wird hier anderes zum Ausdruck gebracht als dass eine Bevölkerung durch das Internet dazu verführt werden könnte, nicht mehr blind der Staatspropaganda zu vertrauen, sondern sich ein eigenes Urteil zu bilden?
Kant, Immanuel (1981): Beantwortung der Frage: Was ist Auflärung? [1784]. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik. Erster Teil. In: Werke in zehn Bänden, Band 9. Hrsg. v. W. Weischedel. Sonderausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 53-61.
Kommentare 7
Naja, vielleicht nicht zu hoch, zu philosophisch, zu akademisch aufhängen; die Krokodilstränen der Guten erkennen, keine eigenen vergießen.
Bei den sog. Londoner Riots wurden nach meiner Erinnerung die sozialen Netze ebenfalls partiell abgeschaltet, werden sie ansonsten flächendeckend überwacht; wie seit Snowden bekannt ist.
Wenn die gesellschaftlichen Zustände erwartbar auch hierzulande türkische Dimensionen annehmen, dann sollte man sich keinerlei Illusionen hingeben.
Wie ist das technisch möglich Seiten in einem Land zu sperren. bzw. das Internet irgendwie zu "zensieren" ?
Es gibt die Möglichkeit die IP`s der unerwünschten Seiten zu blockieren, zb. über die Internet Service Provider. Oder man kauft Software von Leuten, die sich mit sowas auskennen. So hat z.B. Premier Cameron seine Internet-Zensursoftware bei Huawei erstanden.
Es kommt immer wieder in Diskussionen die Frage auf, ob die Sozialen Netzwerke nicht eigentlich böse sind, weil sie von Megakonzernen geführt werden, die alle Daten sammeln und weiterverkaufen an die Märkte die dich dann immer tiefer in den kapitalistischen Verbrauchersog ziehen und immer unfreier machen. Gerade hier in der FC. Konsequent müsste man unter diesem Argument dem Erdogan gratulieren zu seinem zutiefst humanistischen Schritt. ^^ Jetzt bin ich mal gespannt.
Da meinerseits keine der Megakonzerne genutzt, eher (gefühlt) abgelehnt werden, so wollte ich diesem hummanistischen Schritt durchaus ein Stück weit zustimmen.
Eine andere Argumentation könnte ebenfalls greifen. Es gibt keinerlei Recht für den Einzelnen, dass er private, gewinnorientierte Megakonzerne und deren Leistungen überall und unbeschränkt nutzen darf. Aus der Verweigerung eben dessen eine Menschenrechtsverletzung herzuleiten, wie dies manche Medien tun, das scheint mir etwas überzogen.
Was im Falle Twitter/Türkei in jedem Falle zu kritisieren ist -falls es und wie kolportiert die einsame Entscheidung eines Despoten darstellt- das wäre die fehlende rechtsstaatliche Grundlage für das Verbot.
Ob und in wieweit legislative und exekutive Institutionen an dem Verbot beteiligt waren, darüber wird hierzulande nach meinem Eindruck nicht berichtet.
Schön, dass wir wieder ein Beispiel für die Aktualität von Immanuel Kant gefunden haben. Der Alleszerschmetterer, der Alleszermalmer ist nicht unterzukriegen. Ist durchaus ernst gemeint.
Gewisse Formen der Zensur wären ihm aber auch nicht fremd gewesen, vermutlich, aus Gründen, die bereits im Artikel anklingen. Die Grenzen der Freiheit des einen beginnen an der des anderen. Das hat Folgen.
Vernunft und freie Kommunikation sind dann vermutlich doch nicht so leicht zu analogisierende Begriffe. Aber das Argument gegen Unmündigkeit ist zunächst doch das stärkere.
Eigentlich sollten wir evtl. alle kostenlos also (auch diesbezüglich) wirklich vernünftig (auch online) kommunizieren können. Wie im Alltag sozusagen. Wäre spannend, zu erfahren, was unser Kant dazu gesagt hätte.