Deutschland starrt in Richtung Greifswald. Derzeit wird die Ostsee-Pipeline gewartet, aber wird Wladimir Putin sie wieder anschalten? Szenarien von einem Winter ohne durchgängige Energieversorgung gehen um. Wo unlängst die forsche Absage an Putins Blut-Gas reüssierte, regiert die Angst vorm zugedrehten Hahn. Meinte man, man könne einen Wirtschaftskrieg einseitig führen?
Nein, das meinte man nicht. Und niemand hat je behauptet, dass er umsonst zu haben sei. Es galt jedoch als ausgemacht, dass die Opfer sich lohnen und Putins Maschine schwächen würden. Und nun? Nicht nur der öffentliche Rundfunk im NATO-neutralen Österreich rechnet es vor: Infolge der Sanktionen brachen die russischen Deutschland-Importe mengenmäßig um ein knappes Drittel
es Drittel ein – legten ob des enorm gestiegenen Gaspreises aber wertmäßig um rund ein Drittel zu.Abkühlendes MitgefühlRussland bekommt also viel mehr für viel weniger. Vom „Frieren gegen Putin“ bleibt – ja was? Ein Frieren für ein fälschlich gutes Gewissen, das aber de facto den Gestraften stärkt? Es gab Stimmen, die das kommen sahen. Aber haben Medien, Politik und Stammtische wirklich damit gerechnet? Staunend blickt man auf den Bumerang. Und das hat sozusagen System: Wenn uns der Krieg bis hierher etwas lehrt, dann das: Wir sind kaum in der Lage, ein solches Geschehen einzuschätzen.Das gilt für alle. Vor dem 24. Februar hielten viele – der Autor gehört dazu – einen großflächigen Angriff für unwahrscheinlich. Selbst wenn die NATO in Sachen Ukraine-Beitritt mauert, so diese Fehleinschätzung, werde Putin am Ende nicht viel mehr machen als irgendetwas mit den „Volksrepubliken“. Es kam ganz anders – und anfangs glaubten viele, die Ukraine werde binnen Tagen kollabieren. Wieder kam es anders, wieder schlug die Stimmung um. Wohl auch, weil via Social Media jeder ausgebrannte Putin-Panzer gefeiert wurde wie ein deutsches Tor im Herrenfußball, etablierte sich ein anderes Zerrbild: Die russischen Truppen seien so brutal wie marode. Sie hätten zu wenig Munition und würden demnächst meutern oder mit westlichen Waffen aus dem Lande gejagt!Auch dem ist offenbar nicht so. Tatsächlich rückt das russische Militär im Osten langsam, aber machtvoll vor. Nun kündigt Kiew zur Entlastung eine Süd-Offensive an, auf der in deutschen Medien „große Hoffnungen“ ruhen. In der Ansage Kiews, die dortige Bevölkerung möge sich – Richtung Russland (!) – absetzen, liegt eine Drohung: Städte wie das namentlich erwähnte Cherson mit West-Waffen sturmreif zu schießen. Womöglich fiele unser Mitgefühl in diesem Fall etwas kühler aus als bei der Belagerung von Mariupol. Der Erfolg ist jedenfalls ungewiss.Das Wort „Vernichtungskrieg“Hier folgt dazu nun keine Prognose. Aber nutzen wir die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wieso wir der Situation so hilflos gegenüberstehen. Ein Grund deutet sich jedes Mal an, wenn jemand von „Putins Vernichtungskrieg“ spricht: Der bedenkenlose Griff nach gerade demjenigen Label, mit dem die Historik Hitlers Rassefeldzug gegen Russlands „Untermenschen“ meint, liegt nicht nur nahe an dem widerwärtigen Reflex, Israel „Nazi-Methoden“ nachzusagen. Sondern zeigt auch anderweitig deutlich, wie die Bundesrepublik nach 1945 aus der Geschichte ausgetreten ist.Ideell fand sie rasch Aufnahme in die „Wertegemeinschaft“, ökonomisch wurde sie gepäppelt. Der Preis dafür war politisch: Man hatte sich als Schlachtfeld für den großen Showdown bereitzuhalten, der freilich immer unwahrscheinlicher wurde. Unter dem Strich bezahlte man für die Westbindung mit einem Abschied von aktiver Außenpolitik – abgesehen vom kurzen Jahrzehnt der Willy Brandts und Egon Bahrs, die aber eher für das deutsch-deutsche Verhältnis Akzente setzten als für die Weltpolitik.Ein Resultat dessen war eine „Erinnerungskultur“, in der „Hitler das rosa Kaninchen stahl“ und man den D-Day feierte, als sei man dabei gewesen. Stalingrad hingegen blieb eine Niederlage – und Leningrad, was war da noch? Man blickt auf Russland, als sei man Amerika.Das andere Ergebnis des Austritts aus der Geschichte zeigt sich vom Twitter-Kommentariat über die Leitmedien bis zur deutschen Politikwissenschaft: Nach einer Umfrage zur methodischen Selbsteinordnung, die der Politologe Kai Koddenbrock jüngst veröffentlicht hat, fällt diese im internationalen Vergleich dadurch auf, in der weltpolitischen Analyse „realistische“ Modelle krass zu vernachlässigen. Es herrscht ein außenpolitisches Denken, das Macht und Machen ausklammert, aber gern ein wenig Moral verströmt. Das weniger nach realen Interessen, Spannungen und Gefahren fragt als danach, wer nun „im Recht“ sei. Wie sollte man da in die Niederungen herabsteigen, in denen es um die Virulenz gegebener Sicherheitsdoktrinen oder gar um die angemessene Beurteilung konkreter militärisch-ökonomischer Kräfteverhältnisse, Kampfmaßnahmen sowie deren mögliche Nebenwirkungen geht?Wie gesagt: Dieses Manko mangelnden Urteilsvermögens gilt für alle. Auch der Anti-Mainstream, der instinktiv die Bad Boys verteidigt, fiel aus allen Wolken. Umso mehr sollten wir – auch wenn wir die Winterabende hoffentlich nicht bei Kerzenschein im Wolldecken-Lockdown verbringen – das Staunen über den Sanktionsbumerang zum Anlass nehmen, uns diesbezüglich weiterzubilden. Das heißt nun nicht, in das alte Lied der „Weltmacht wider Willen“ einzustimmen, das da lautet, dieses Land sei objektiv zur Kraftmeierei verurteilt. Aber wir müssen uns klarer machen, in welcher Welt wir leben.