Laut Journal of Health Monitoring hatten gut 60 Prozent der Deutschen anno 2021 Rückenbeschwerden. Doch damit nicht genug: Hinzuzurechnen sind eigentlich noch etliche Leute, die vordergründig gar nicht Rücken, sondern Hüfte oder Knie haben. Denn auch diese Beschwerden haben oft mit der Wirbelsäule zu tun, auch wenn die vielleicht gar nicht wehtut: Unwillkürliche Schonhaltungen können zuweilen akute Schmerzen im Kreuz umschiffen, doch über kurz oder lang rächt sich das anderswo im Körper. Und damit sind wir schon beim Journalismus, dem Teil des Gesellschaftswesens, der so gern vom Rückgrat spricht: Um sich selbst oder das Publikum vor verwirrenden Umständen zu schützen, nehmen Medienschaffende immer öfter solche Schonhalt
Journalismus: Corona, Krieg – und der Tod der Nachricht
Analyse Wie wahrscheinlich ist es, dass die Russen sich selbst beschießen? Im Ukraine-Krieg wird sogar das als möglich berichtet. Die Medien müssen sich schnell eines Besseren besinnen

Mit dem Rücken ist es wie mit Redaktionen: Eine Schonhaltung verschafft nur vermeintlich Linderung und rächt sich später
Foto: Pixdesign123/Adobe
he Schonhaltungen ein, die gleichfalls in den sozialen Organismus abstrahlen.Stellen wir uns etwa vor, die Regierung habe binnen zwei Jahren mit Nachdruck 195 Millionen Impfungen verabreichen lassen. Ihr Gesundheitsminister versprach, sie seien „mehr oder weniger nebenwirkungsfrei“. Was macht man angesichts dieser Dimensionen aus der Aussage des zuständigen Instituts, der Verdacht auf gravierende Nebenwirkungen betreffe 0,27 von 1000 Impfungen? Wie sieht man den Umstand, dass die Zuständigen von zehn Anträgen auf Feststellung eines gravierenden, gar dauerhaften Schadens neun ablehnen?Neu justiertes Zielfernrohr Das ist eben eine Frage der Haltung, also eines Vorgefühls für jede Nachricht. Letzteren Sachverhalt etwa kann man legitim in eine Meldung gießen, deren Überschrift „Neun von zehn Anträgen unbegründet“ lautet. Nicht minder korrekt ist freilich der Titel „Behörden lehnen neun von zehn Anträgen ab.“ Im zweiten Fall ist Raum für Skepsis gegenüber solchen Verfahren, die im Bewilligungsfall teuer werden. Im ersten indes überwiegt die Nuance, dass ein Gros dieser Anträge tatsächlich nicht stichhaltig sei, wenn diese nicht gar – Achtung: Schwurbler! – in sozusagen politischer Betrugsabsicht gestellt würden.Lange war jenes Vorgefühl für News gerade in Gesundheitsdingen skeptisch: Pharmakonzerne wollen nur Geld, während es ein Kampf ist, Omas Pflegestufe durchzukriegen. Doch die Pandemie hat die Kulissen verschoben. Ausdruck dessen sind die in der nun fast allerorten eingeführten „Faktencheck“-Formate. Sie konzentrieren investigative Ressourcen auf das Bloßstellen „falscher“ Kritik am Regierungshandeln, statt nach berechtigter zu suchen. Ohne den Journalismus vor 2020 zu glorifizieren: Diese Neujustierung des Zielfernrohrs ist schon eine „Zeitenwende“.Apropos: Stellen wir uns weiterhin vor, in einem Krieg zwischen Macht A und Macht B halte A einen bestimmten Ort. Wie wahrscheinlich ist es, dass A ihre Eroberung beschießt? Was wäre von Medien zu halten, die dies immer wieder als möglich in den Raum stellen? Dieser Ort ist dieser Tage das ukrainische Kernkraftwerk in Saproischschja, Europas größtes. Es ist fast seit Kriegsbeginn russisch besetzt, aber nicht am Netz – doch braucht es Strom, um nicht zu havarieren. Vergangene Woche war die Versorgung mal wieder unterbrochen, soweit man weiß zum insgesamt siebten Mal. Womöglich war der Black Out Folge von Gefechten, die weitab des Kraftwerks Stromleitungen zerstörten und kein gezielter Angriff auf den Meiler. Doch auch solche gibt es immer wieder.Gemeldet wird dann von Süddeutsche Zeitung bis Tagesschau, dass die Internationale Atombehörde IAEA alarmiert sei und ein Abkommen fordere, das Kraftwerk aus den Kämpfen zu nehmen. Offen bleibt dagegen die Frage, wer es beschießt. Ob vergangenen Sommer oder jüngst – zumal bei der ARD findet sich eine stereotype Formulierung: „Die Ukraine und Russland wiesen sich gegenseitig die Verantwortung für den Beschuss zu“, „Moskau und Kiew beschuldigen sich immer wieder gegenseitig, für Angriffe um und auf das Atomkraftwerk verantwortlich zu sein“ – und so weiter.Die einen sagen so, die anderen so? Ganz formal ist das eine korrekte Nachricht: Es wird berichtet, wie die Parteien einen Vorgang kommentieren. Und dieses Genre, die reine Nachricht, gilt als die heimliche Königin des Journalismus: Erstmal sagen, was ist – und später vielleicht einordnen. Gewiss war das immer fragwürdig, denn „reine News“ gibt es nicht. Es kommt darauf an, was man sieht und wen man fragt. Aber nun sind die Medien dabei, die Nachricht ganz zu töten. Offensichtlich wird deren Modus – „die einen sagen so, die anderen so“ – genau dann eingeschaltet, wenn man gerade nicht sagen will, was ist. Die Entscheidung, nicht „wissen zu können“, wer dieses Kraftwerk beschießt, benutzt genau die formale Objektivität des Genres Nachricht zu einer Parteinahme.Raunen und KopfschüttelnDie unschuldige Nachricht ist also tot. Man kann ihr Hinscheiden sogar datieren – auf den Sommer 2022. Damals traf eine Rakete einen Markt in Donezk, es gab zivile Opfer. Die ARD brachte ein emotionales Stück, das den Angriff auf die pro-russische Stadt Moskau zuordnete und zu Waffenforderungen überleitete. Erst auf irritierte Fragen ruderte man zurück: Es sei „in der Tat nicht erwiesen“, dass es eine russische Rakete gewesen sei, beschied ARD-Aktuell damals dem Freitag. Man bedaure den erweckten Anschein und habe den Beitrag „entsprechend korrigiert“.Tatsächlich wurde aber nie richtiggestellt, dass das mit Sicherheit eine ukrainische Rakete war. Man knipste nur nachträglich den „objektiven“ Modus der Nachricht an und eierte entsprechend herum: Die einen sagen so, die anderen so, mitten im Krieg sind Quellen prekär! Das ging über das bloße News-Selektieren hinaus. Es ist das eine, dass im Unterschied zu deutschen Medien die Schweizer etwa berichten, wie eindringlich jüngst Oleksij Arestowytsch – ein Ex-Berater von Präsident Wolodymyr Selenskij – vor Diskriminierung und Gewalt gegen Russischsprachige warnt. Das kann man ja für „jetzt nicht wichtig“ halten. Der Donezk-Hoax aber war etwas anderes: Statt zuzugeben, dass man ein Material um 180 Grad gedreht hatte, missbrauchte man die Form der Nachricht, um eine Nachricht zu unterdrücken – nämlich die, dass auch „unsere Seite“ tötet, womöglich mit westlichen Waffen. Es geht hier ums Prinzip, um den Journalismus selbst. Um die Integrität seiner Kernform, die erstmal sagen soll, was ist.Wem am Journalismus gelegen ist, darf es nicht kleinlich finden, auf dieser Rakete herumzureiten. Denn dass selbst nach dieser Blamage noch immer nicht gewusst werden kann, wer das Kraftwerk beschießt, sondern weiterhin die Form der Nachricht der Verschleierung dient, zeigt den einen Faktor der heutigen Kriegsberichterstattung – böse gesagt: Manipulation. Denn so etwas passiert nicht einfach. Das Ummodeln jener „Meldung“ wie auch die Sprachregelung zu Saproischschja sind eine überlegte Entscheidung. Doch wird diese flankiert von einer zweiten, impliziten Macht, die Pierre Bourdieu die „Doxa“ nennt: Glaubenssätze, die in sozialen Feldern unhinterfragbar sind – auch weil sie nicht mehr rational operieren, sondern sich in leiblichen Affekten behaupten. Doxa muss nicht richtig sein, sondern stimmig, nicht abwägen, sondern „Sinn machen“.Parteilich, nicht parteiischWer die journalistische Doxa erleben will, stelle in der Bundespressekonferenz für ein „umstrittenes“ Medium eine Frage: Es geht ein Raunen und Kopfschütteln durch den Saal, das die Grenzen des Fragbaren deutlich aufzeigt. Oder man setze sich eben in einen gefechtseifrigen Newsroom etwa der ARD. Dort – und nur dort – verdichtet sich die Doxa schon räumlich so sehr, dass auch Top-Personal den Status von Donezk vergessen kann. Auch das passiert ja nicht einfach so, sondern wenn Wallungen den Kopf ausschalten.Ein wichtiger Fernsehmedienpreis heißt nach dem ARD-Anchor Hanns Joachim Friedrichs. Von ihm stammt das Bonmot, dass Journalismus sich mit keiner Sache gemein machen dürfe, auch nicht mit der besten. Dieses Ideal vom neutralen Berichten ist antiquiert, ohne Haltung keine News. Erinnern aber möchte man an eine Unterscheidung, die – theoretisch – ausgerechnet in der DDR gemacht wurde: Sei „parteilich“ im Sinne des Guten, nicht aber „parteiisch“ zu Lasten der Realität.Schon unter Corona hat der Journalismus diese Grenze überschritten. Er berichtete nicht, er kämpfte einen Kampf, er mobilisierte und rückte ein. Nun liegt er vollends in den Kasematten. Aufgrund seiner Schonhaltung kann er nicht mehr sagen, aus welcher Richtung geschossen wird, weil unsere Seite die gute ist und der Gegner nur böse sein kann. Zwischentöne sind nicht nur feindlich, sondern müssen des Feindes sein. Wenn das so weitergeht, drohen dem sozialen Körper Schäden, die von einem bösen Rücken nur träumen lassen.