Der Patriotismus ist ja meist bipolar: Er schwankt zwischen Hurra und Zerknirschung. Lange konnte ich das von außen beobachten, denn das Vaterland war mir egal. Die ostdeutschen Neonazis, die ich in den Neunzigern als Geschichtsstudent bekämpfte, habe ich zwar gehasst. Aber weniger für ihr Germanen-Blabla als für den Charakterzug, nach unten zu treten. Das bildungsbürgerliche Mitfiebern bei der „Schlacht im Teutoburger Wald“ kam mir putzig vor. Den teutonischen Hausherrenkomplex fand ich so abwegig wie seine Äußerungen im Auslands-Fremdenverkehr.
Befremdlich war mir aber auch der Anti-Patriotismus, der im Negativen so aufs Vaterland fixiert ist, dass er sich mit viel kosmopolitischem Getue von eben diesem absetzen muss – sodass er beim Fu
er beim Fußball für die gegnerische Mannschaft eifert oder es cool findet, sich selbst mit negativen Fremdbezeichnungen à la „Kartoffel“ zu belegen. Aber wie gesagt: Persönlich nah ging mir das alles nicht. Man kann nichts für den Geburtsort.Weil man mir diese Indifferenz wohl anmerkte, bekam ich das Thema selten aufgetischt. So fuhr ich lange gut mit diesem Agnostizismus. Bis, ja bis – die Sache mit dem BER passierte. Die Tatsache, dass mein Land in den Zehnerjahren als das Land bekannt wurde, das keinen Flughafen bauen kann, hat mich ins Magnetfeld der National-Identifikation gezogen, wenn zunächst auch auf überraschende Weise:Anfangs war ich nämlich ein Fan der Dauerpanne! Durchkreuzte die doch virtuos jedes Deutschlandklischee vom gefährlich kühlen Homeland der perfektionistischen Rechenschieberei. Bis heute glaube ich, dass uns die Posse um den BER mehr Sympathie gebracht hat als alle Weltoffenheitserlasse: Endlich mal konnte man die Deutschen auf ihrem ureigenen Feld von Planung, Organisation und Technik auslachen. Das machte uns menschlicher.Stolz auf die BER-Posse?Doch weil das Vaterland eben Gefühlsschwankungen verursacht, schlug mein BER-Pannenstolz bald ins Gegenteil um. Der Kipppunkt war vor Jahresfrist ein Tweet von Julie Delpy. Dass der Hollywoodstar selbst von der Deutsche-Bahn-Prestigeverbindung München-Berlin energisch abriet, fand ich zwar verständlich. Doch verfiel mein Hirn sofort in den patriotischen Modus, der ja Kritik mit mehr Kritik vergilt: „Moment“, blaffte ich in Gedanken zurück, „wie sieht’s denn bei euch aus? Darf man im Amtrak während der Zugfahrt noch Blumen pflücken?“Wie hässlich und platt ich hier von Scham zu Aggression gelangte! Schon deshalb bin ich für einen Infrastruktur-Patriotismus. Ich will mich nicht mehr für die Bahn schämen. Nicht für Schulen, die – man will’s kaum noch sagen – den sozialen Status reproduzieren. Nicht für absolute und relative Funklöcher, die zehn Prozent der Fläche bedecken, für faxende Behörden, ruinöse Schwimmbäder et cetera.Hobrecht statt Goethe Hatten Sie auch schon so ein Julie-Delpy-Erlebnis? Dann lassen Sie uns eine patriotische Bewegung neuen Typs gründen. Eine, die dieser Scham den Boden entzieht. Die nicht die genretypischen Heinrich Amadeus von Arnims auf den Schild hebt oder allerlei Ottos, Friedriche und Wilhelms. Sondern etwa einen James Hobrecht.Der Berliner Stadtplaner des 19. Jahrhunderts eignet sich nicht nur, weil seine Stadt bis heute von seinem Erbe zehrt. Sondern auch, weil viele seiner reformerischen, ja „inklusiven“ Planungsprinzipien später dem Privatprofit geopfert wurden. Womit wir das Minenfeld der Ursachenforschung betreten: Ist, wie man gelegentlich in der FAZ lesen kann, zu viel behördliche Bürokratie das Problem? Oder eher, wie etwa Georg Diez im Deutschlandfunk kommentierte, das fortgesetzte Schlechtreden und Schlankmachen des Staates?Einstweilen sollte man wohl ergebnisoffen an die Diagnose herantreten. Aber ernsthaft muss die Auseinandersetzung sein. Denn Infrastruktur ist Demokratie, wenn man darunter mehr versteht als den Mehrheitsentscheid. Sie erst ermöglicht Werte wie Teilhabe und Selbstbestimmung, von denen das Grundgesetz so gerne spricht. Ein Infrastruktur- ist deshalb nicht weniger als die Konkretion des viel beschworenen „Verfassungspatriotismus“. Und zumindest zu dieser sollten wir ein Verhältnis finden, das jene bipolare Schwankungen vermeidet.