Wem ist der „Jahrhundertsommer“ des Jahres 2003 noch erinnerlich? Von Mai bis Oktober war es fast durchweg wolkenlos und heiß. Ich hatte gerade bei einer linken Zeitung angefangen, die schon damals viel zum Klimawandel brachte. Doch nach dem Dienst saßen wir oft gut gelaunt hinter der Redaktion in der Abendsonne und trällerten Rudi Carrell: Endlich „mal wieder richtig Sommer“!
Dies war dann aber auch das letzte Mal, dass man in meinem Umfeld solches Wetter einfach genoss. Schon drei Jahre später war das vorbei. Als Spielglück und viel Sonnenschein sich 2006 zum „Sommermärchen“ verdichteten, fürchtete die Blase ob der Balltreterei eine deutschnationale Welle – und sah in der Witterung die kommende Menschheitskatastr
itskatastrophe.Erst kürzlich kam mir dieser Stimmungswandel wieder in den Sinn – anhand einer Studie des Reuters Institute an der Uni Oxford: 43 Prozent der international Befragten vermeiden zuweilen gezielt bestimmte News. Und über ein Drittel gab als Grund dafür an, sich nicht mit negativen, beängstigenden Themen belasten zu wollen.Was ist das nun? Eine verstockte Vogel-Strauß-Mentalität? Zunächst ist der Befund bemerkenswert: Was nämlich muss passiert sein, wenn der Sensationsreiz, der solchen News ja eigen ist, von einem Überdruss an, ja einer gewissen Angst vor dem existenziellen Alarm-Appell überlagert wird, der ihren Thrill ausmacht? Offenbar hat seit dem damals positiv wahrgenommenen „Jahrhundertsommer“ eine Kultur der Angst um sich gegriffen, die viele Menschen emotional zu überfordern beginnt.Verängstigung stößt an GrenzenNun haben sich in den vergangenen zwei Dekaden besorgniserregende Ereignisse tatsächlich gehäuft: die Terroranschläge 9/11, Finanz- und Eurokrise, Pandemie und jetzt Ukraine-Krieg, zudem häufen sich die Wetterextreme. Doch komplementär dazu hat sich eine Politik der Beängstigung etabliert. Regierungen, Oppositionen, Bewegungen, NGOs und Denkfabriken greifen immer häufiger zu der Formel: „Wenn ihr nicht sofort dies tut, dann droht euch bald das!“ Ausformuliert findet sich das in dem berühmten Covid-Papier des Innenministeriums aus dem Frühjahr 2020, das empfahl, mit „Urängsten“ zu spielen. Weniger spektakulär, aber langfristig um so wirksamer dürften zum Beispiel auch all die „Sozialreformen“ an der Verängstigung mitgewirkt haben, die seit etwa 2000 vielerorts umgesetzt wurden. Ihr Prinzip war ja stets: „Motivation“ durch Angst.Jene Studie aus Oxford deutet nun an, dass diese Art der Schockansprache an Grenzen stößt. Stecken jetzt alle den Kopf in den Sand? Sind wir verloren? Nein, denn dieses Weghören ist nicht einfach gleichzusetzen mit einem Mangel an Problembewusstsein. Aus dem Reflex, die stete Bekräftigung des Beunruhigenden zu vermeiden, spricht ja das Wissen um dessen Existenz. Und ist denn besser, was man aus der Psychotherapie hört? Offenbar – siehe Freitag 16/2022 – häufen sich inzwischen die Fälle der Menschen, die sich der Krisengegenwart so intensiv aussetzen, dass sie vor lauter Angst ihren Alltag nicht mehr schaffen. Ganz zu schweigen von sinnvollen politischen Kampagnen.Die Angst, so das Sprichwort, sei eine schlechte Ratgeberin. Das stimmt freilich nur bedingt. Kurzfristig kann sie von schlechten Entscheidungen abhalten: Fürchte ich die Energierechnung, heize ich weniger. Addiert sich meine Furcht und Sorge aber zu einem Zustand der Verängstigung, bin ich gelähmt: Ich wage dann nicht mehr, den Brief vom Versorger überhaupt zu öffnen – habe aber nicht gehandelt. Dann kann man alles mit mir machen. Aus konkreter Angst schrecke ich vielleicht vor der Einmischung in einen gefährlichen Konflikt zurück. Aber kann eine chronisch verängstigte Gesellschaft positiv handeln? Aufbrechen zu dem langfristigen Umbau, den das Elend der Welt uns aufgibt?So muss es nicht schlecht sein, dass sich viele dem Angstbeschuss inzwischen verweigern – wie ja auch der Vogel Strauß viel richtig macht. Dass er bei Gefahren, vor denen er nicht wegrennen kann, den Kopf senkt, um wie ein Busch zu wirken, ist die erfolgreiche Tarnstrategie einer sehr alten Tierart. Über all das sollte man zumindest mal sprechen – ganz angstfrei in der Abendsonne.