Nur äußere Neutralität kann die Ukraine nach innen befrieden

Meinung Bitter, aber wahr: Eine denkbarer Ausweg aus dem Ukraine-Krieg besteht im Status quo ante
Ausgabe 12/2022
Nur äußere Neutralität kann die Ukraine nach innen befrieden

Illustration: der Freitag

Als Europa im 16. Jahrhundert mit China in Kontakt kam, berichteten die Vortrupps an den Höfen: Es lebten dort Menschen „unserer Art“, „hellhäutig“ und „den Deutschen nicht unähnlich“, wie des Kaisers Geheimschreiber Transylvanus formulierte. Dass dort eine „gelbe Rasse“ hause, die Leute also ganz anders seien als wir – diese Ideen kamen erst viel später auf. Und zwar genau dann, als die Imperien des alten Kontinents im Fernen Osten handfeste Interessen entwickelten, wie auch die Mittel, diese durchzusetzen.

Gewiss ist das weit hergeholt dafür, heute einen Blick auf die Ukraine zu werfen. Doch eines lässt sich verallgemeinern: Rassismus, Ethno-Nationalismus und ähnliche Formen des „Wir gegen die“ wurzeln nicht in sich selbst. Nur im Rahmen übergeordneter politischer Konflikte wird aus Nachbarschaft ein „Othering“ en gros. Wie schnell das gehen kann, hat sich im früheren Jugoslawien gezeigt. Und was entsteht, wenn man ein einmal etabliertes Gegeneinander solcher Kollektive durch Repräsentationsorgane und Proporze zu befrieden versucht, ohne den Hintergrundkonflikt zu entschärfen, lässt sich gleichfalls dort studieren, wo sich einmal Titos „Bundesrepublik“ befand: nämlich gerade kein funktionierendes föderales Gemeinwesen, das Befindlichkeiten ausgleicht. Sondern ein dysfunktionales Gebilde wie Bosnien-Herzegowina, wo all diese Organe der Gruppenvertretung nur dazu benutzt werden, einander zu belauern und zu blockieren.

Wir sind Europa – ihr seid Asien

Haben Putins Raketen die russische Bevölkerung der Ukraine nun ukrainisiert? Oder gibt es noch klammheimliche Freude, etwa dort im Landesosten, wo größere Kämpfe ausgeblieben sind? Das weiß niemand so genau. Klarheit besteht aber über jenen Hintergrundkonflikt, an dem sich 2014 die Spaltung vollzog. Er heißt Westbindung – und besteht nicht nur im politischen Streben nach einer NATO-Mitgliedschaft, sondern hat auch eine kulturelle Seite. Bereits auf dem Maidan war die Grenze zwischen dem Protest gegen ein Regime „à la russe“ und der Anfeindung des Russischen fließend. In dem Ruf „Wir sind Europa“ hörten in Donezk oder auf der Krim nicht wenige den Subtext „Und ihr seid Asien“. Seither und jetzt natürlich erst recht besteht der Kern des ukrainischen Nationalgefühls in der Abgrenzung von Russland. Es ist schwer, sich unter diesen Bedingungen einen funktionierenden Föderalismus vorzustellen. Und fast unmöglich wäre das, wenn sich das Land in einen NATO-Frontstaat verwandelte, womit ja auch eine gewisse ideologische Mobilisierung einherginge.

Nun scheinen sich die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau um eine bündnispolitische Neutralitätserklärung der Ukraine zu drehen. Sollte es – unter wessen und welchen Garantien auch immer – dazu kommen, rückt eine Lösung des Konflikts in den Bereich des Vorstellbaren, welche die Ukraine nicht ganz verstümmelt. Die Krim wird Russland auch im Gegenzug für einen NATO-Verzicht kaum zurückgeben. Die „Volksrepubliken“ hingegen hat Putin zwar anerkannt, aber noch nicht „aufgenommen“. Zumindest theoretisch könnte er die dortigen Regierungen noch immer dazu ermuntern, einer föderaleren Ukraine wieder beizutreten.

Alles an diesem Krieg ist bitter, auch eine solche Einigung wäre es. Hätte Putin die Invasion befohlen, wenn Kiew im Januar erklärt hätte, nun doch nicht in die NATO zu wollen – oder wenn die NATO einen Aufnahmestopp verkündet hätte? Hätte man etwas Derartiges nicht ohne Panzer, Bomben und Tote haben können? Nun gibt es das alles, und es klingt falsch, den Angriff zu belohnen. Doch müssen wir wieder in Kategorien des Kalten Krieges denken. Und dessen Geschichte lehrt zweierlei: Erstens hat Moskau die Neutralität Finnlands und Österreichs seinerzeit zwar auch erzwungen, dann aber respektiert – obwohl damals die UdSSR ungleich stärker war als das Russland von heute. Und zweitens folgten Entspannungsphasen auch damals stets herbe Eskalationen.

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Geschrieben von

Velten Schäfer

Redakteur „Debatte“

Velten Schäfer studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Afrikanistik in Berlin und promovierte in Oldenburg mit einer sportsoziologischen Arbeit. Nach einem Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland arbeitete er zunächst als freier Journalist. 2014 wurde er erst innenpolitischer und dann Wissenschaftsredakteur beim neuen deutschland. Anfang 2021 kam er zum Freitag, wo er sich seither im Debattenteil als Autor und Redakteur mit Fragen von Zeitgeist und Zeitgeschehen befasst.

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