Teure Bauruinen, umgekrempelte Städte, Milliarden-Dollar-Ströme rund um eine korruptionsanfällige Organisation, eine Plattform für Autokraten mit katastrophaler Klimabilanz: Schon vor Corona gab es an Olympia viel zu kritisieren. Und jetzt wird das inmitten einer global grassierenden Infektionskrankheit einfach durchgezogen, obwohl in Japan die meisten dagegen sind? Nie lag der Reflex so nahe, nach einem Ende dieses Wahns zu rufen. Doch nie war das so falsch wie heute – gerade wegen der Pandemie. Gewiss ist mit Sorgfalt zu verhindern, dass von den Spielen von Tokio tatsächlich eine neue Pandemiewelle ausgeht. Zugleich aber ist der „olympische Gedanke“, die Welt in Frieden zum Sport zu versammeln, unter Corona so wichtig wie lange nicht.
Denn haben sich nicht seit März 2020 eine seltsame Angst vor der Nachbarschaft sowie – seien wir ehrlich – auch hässliche Gefühle des Neids, der Überlegenheit oder sogar der heimlichen Schadenfreude gegenüber Staaten in unsere „neue Normalität“ geschlichen, die andere „Konzepte“ verfolgten? Wirkte da nicht der unverdrossene Einzug gerade der Kleinen und Armen ins Olympiastadion, der stolze Auftritt all jener Länder, von denen sonst wenig zu hören ist, wie eine Demonstration für die Erkenntnis, dass unsere Gegenwart mehr und vertiefte statt weniger Globalität braucht – bei den Impfstoffpatenten nur angefangen?
Okay, mag man sagen, vielleicht eine schöne Geste. Aber was ist mit Autokratien, Korruption und Klimawandel? Wer einen Weltsport will, kommt um ein Weltsportfest nicht herum, das emissiosneutral nicht zu haben ist – eine Abwägungsfrage. Wer aber vom Sport verlangt, aus sich heraus Gerechtigkeit in die Welt zu tragen, überfordert ihn. Warum sollte er als soziales Feld besser sein als der Kapitalismus, der ihn im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat? Die Utopie des Sports liegt „auf dem Platz“: Er feiert die Idee, dass vor seinen Regeln alle gleiche Chancen hätten. Das ist sein Versprechen. Nun zeigt jeder Medaillenspiegel, in dem Europas Kleinstaaten große Länder des Südens hinter sich lassen, dass das auch im Sport nur selten zutrifft. Doch allemal ist er seinem Fairnessideal näher als die Gesellschaft, der er dieses Postulat einst entlehnt hat. Und anders als gesellschaftliche sind sportliche Regeln per Federstrich zu ändern, was gar nicht selten passiert.
Das „auf dem Platz“ nimmt dann durchaus auch auf Gleichheits- und Gerechtigkeitsdiskurse Bezug – und längst nicht nur abwehrend. Wie steht es im Sport um trans Menschen? Was ist mit umstrittenen Dresscodes? Dient das Verbot voluminöserer Schwimmhauben für „afrikanische Haartrachten“, das jüngst Furore machte, tatsächlich der sportlichen Fairness? Oder verabsolutiert es weiße Körperlichkeit? Man darf nicht unterschätzen, wie sehr solche Kontroversen „auf dem Platz“ in die Welt wirken. Das heißt nicht, dem IOC einen Freifahrtschein auszustellen. Doch sollte, wer die Welt verändern will, bei ebendieser anfangen. Und für Verhältnisse streiten, in denen auch ein anderes Weltsportfest wüchse.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.