Twitter-Zentrale in San Franciso: Elon Musk mit einem Spülbecken unterm Arm
Foto: Twitter account of Elon Musk/AFP/Getty Images
Now let that sink in: Man muss Elon Musk ja lassen, dass er Humor hat, zumindest, solange er es ist, der die Zoten bringt. So schleppte er zur Twitter-Übernahme eigenhändig ein Waschbecken ins Hauptquartier des Microblogging-Dienstes. Der gespielte Witz: Das Substantiv „sink“ heißt Wasch- oder Spülbecken – die Redewendung „let this sink in“ jedoch ist mit „lasst das mal sacken“ richtig übersetzt. Oder kürzer: „Nehmt das!“
Natürlich weiß man das alles – von Twitter. Wer irgendwas mit Medien oder Politik macht, kommt um ein Konto dort kaum noch herum. Es ist auch wirklich praktisch als O-Ton-Agentur, weil alle, die was mit Politik oder Medien machen, sich dort wie zwanghaft äußern, of
23;ern, oft mehrmals am Tag. Für diese Leute ist es wichtig, was der neue „Chief Twit“ sie schlucken lassen will. Umgehend hat er die Führungsetage gefeuert, auch die Hassreden-Beauftragte Vijaya Gadde. Die hatte dafür gesorgt, dass Donald Trump ausgesperrt wurde. Jetzt aber wird, so twittert Musk, der „Vogel befreit“ – und alle Welt rätselt: Kommt Trump zurück? Will Musk das polarisierende Blasen-Wesen entschärfen? Oder nur die Rechte stärken?Der Medien-über-Medien-Journalismus hat ein Megathema; es gibt sogar schon Live-Ticker. In der linken bis linksliberalen Blase ist man alarmiert. Wie schlimm, so heißt es auf Twitter-Profilen, „dass Reiche alles, was halbwegs okay ist, kaputtmachen müssen!“ Andere Accounts drohen gar damit, Twitter den Rücken zu kehren – wozu sie einstweilen kaum kommen werden, weil die Personen, die sie betreiben, den ganzen Tag damit beschäftigt sein dürften, die Reaktionen auf ihre Ansage zu checken und Antworten darauf zu kommentieren. Dieses Twittern über Twitter aber ist Twitter in a nutshell: eine selbstbezügliche Verstärkungsmaschinerie, die nichtsdestotrotz nicht ignoriert werden kann.Ein „Trend“ ist nicht Vox PopuliDenn einerseits ist Twitter hierzulande ein Randphänomen. Es gibt zwar Marktumfragen, nach denen 17 Prozent Twitter nutzen, andernorts liest man von „nur“ acht Millionen. Doch ist hier generell Vorsicht geboten. Monatlich oder wöchentlich einmal die App zu öffnen, gilt schon als „regelmäßige Nutzung“ – und gerade Twitter ist dafür bekannt, dass sich die tatsächlichen Aktivitäten auf der Plattform sehr ungleich verteilen.Laut einer Studie von Pew Research gehen 97 Prozent der Beiträge auf höchstens 25 Prozent der Accounts zurück, wobei unklar bleibt, wie viele Leute mehrere Konten betreiben. Realistisch dürften sich hierzulande zwischen einer und maximal zwei Millionen Menschen auf Twitter aktiv beteiligen, also um die zwei Prozent. Selbst damit ist noch lange nicht das tägliche, teils stündliche Schreiben, Teilen und Liken zu politisch-gesellschaftlichen Themen gemeint, das man gemeinhin mit der Plattform verbindet. Die Heavy User, die quasi in Echtzeit auf Ereignisse oder Äußerungen reagieren und so den Tenor konstituieren, sind kaum mehr als ein paar Hunderttausend. Ein Twitter-Trend per se ist alles andere als Vox Populi. Doch andererseits sind diese Leute Multiplikatoren. Den herkömmlichen Medien, deren Beschäftigte meistens „auf Twitter sind“, gilt der Dienst mindestens als Themenfindungsmaschine, wenn nicht auch die Recherche schon praktisch darin besteht, dass Twitter-User anderen Twitter-Usern Direktnachrichten schicken. Werden auf einer Redaktionskonferenz heikle Themen oder steile Thesen diskutiert, steht gleichfalls oft ein vorgestellter Twitter-Tenor im Raum. Nach dem unausgesprochenen Motto: Lieber nicht, das gibt einen Shitstorm – oder aber: Super, her mit dem Krawall! So kommen die 98 oder 99 Prozent, denen hierzulande Twitter eher fremd ist, dennoch nicht um eine von diesem Nischendienst vorgefilterte Kommentarbeschallung herum. Zwei Prozent versus 98 ProzentUnd das ist das eigentliche Problem an Twitter: Die „gesellschaftliche Polarisierung“, die man kulturkritisch gern mit dem Dienst verbindet, ist kein Binnenphänomen, sondern eines der Grenzüberschreitung. Es geht dabei also nicht etwa darum, dass sich auf 280 Zeichen per Tweet nicht abwägen lässt, sondern nur herumrotzen. Das Problem ist auch nicht, dass sich besonders polemische Tweets auf der Zwitscher-Insel besonders lohnen. All das geht an den 98 Prozent ja vorbei, die die Plattform nicht oder nicht wirklich nutzen. Das Problem ist, dass die zwei Prozent zu oft vergessen, in welch kleiner und spezifischer Nische sie sich ihre Meinung bilden und ihre Argumente erproben.Dort nämlich fühlen sich ein paar hundert Likes und Retweets schon an wie ein Tout-Le-Monde. Doch lässt man – etwa weil Chefredaktionen auf Twitter Schreibtalent rekrutieren – krasse „Takes“, die in der Blase auf Applaus stoßen, ohne Weiteres auf die Welt da draußen los, beginnen die Missverständnisse. Die 98 Prozent kennen den Zusammenhang nicht, in dem die These entstanden ist. So haben sie vielleicht kein Verständnis für einen apodiktischen Ton, der sich aus diesem Twitter-Binnenkontext ergibt. Und umgekehrt meinen die zwei Prozent, in schlichtem Unverständnis oder tatsächlich harmlosen Fragen aus der Nicht-Twitter-Welt einen Hater-Tenor zu erkennen, den sie auf der Plattform erwarten würden.Der Kategorienfehler, die Twitter-Nische schon für soziale Wirklichkeit zu halten, steht nun auch Pate in der Aufregung über Elon Musk. Wenn dieser, wie die liberale Blase fürchtet, tatsächlich daran geht, die weniger liberale Blase auf der Plattform zu stärken, mag das zwar dort den Ton vergiften. Doch hat das zumindest hierzulande mit Gesellschaft zunächst wenig zu tun. Aus Protest etwa gegen die Entlassung Vijaya Gaddes auf Twitter mit einer Löschung von Twitter oder einem Wechsel zu „Mastodon“ zu drohen, ist daher keine Aktion für eine demokratische Öffentlichkeit, sondern eitel und selbstbezogen – eben typisch Twitter. Jener demokratischen Öffentlichkeit jedenfalls wäre eher geholfen, wenn die, die zu ihr sprechen wollen, sich mit ihr selbst beschäftigen würden, statt sie weiter mit einem verzerrten und verschlagworteten Surrogat zu verwechseln, das letztlich Geld verdienen soll. Auch wenn das klingen mag wie bei den „TROGS“, den letzten Technik-verweigernden Sonderlingen in Dave Eggers etwas zu romantisch-pädagogischen Online-Netzwerk-Horrorroman Every.Und jetzt lasst dieses Waschbecken mal rein!