Wer heute darauf zurückblickt, wie man sich vor dreißig oder fünfzig Jahren die Zukunft vorstellte, bekommt ein langes Gesicht. Zwar hatte um 1970 oder 1990 niemand die Idee, es könnten alsbald die Menschen ein Daten-Dings in der Hose tragen, mit dem man Filmchen und Herzchen verschicken kann, doch ansonsten gab es statt der großen Versprechungen von Zeitmaschine bis Schwebeverkehr offenbar hauptsächlich radelnde Menschen mit eckigen Liefertaschen.
In Großstädten von Berlin bis Stuttgart findet diese Enttäuschung derzeit neuen Anlass. Dort häufen sich Begegnungen mit dem schwarz uniformierten Würfelboxpersonal von „Gorillas“. Bemerkenswert ist dieses, weil es sich dabei um das neue große Start-up-Ding handelt. Im Mä
Im März sammelte das 2020 gestartete Unternehmen 245 Risikomillionen ein, seither ist es ein „Einhorn“, weil der „Wert“ dieses Dienstes auf eine Milliarde geschätzt wird.Tausend Millionen? Leider ja – und auch kein Einzelfall. Nachdem sich vor Jahresfrist der deutsche Internetstar Wirecard als Megabetrug entpuppt hatte, rückte im Herbst stattdessen wer in den DAX auf? Delivery Hero, ein besserer Pizzaservice. Und so geht es weiter: Lieferheld, Lieferando, Foodora, Pizza.de – auf den Straßen gewinnt man den Eindruck, als dienten die tollen Möglichkeiten der Daten-Hightech zumindest hierzulande vor allem der Nahrungsmittelversorgung von 35-Jährigen durch 25-Jährige.Das wirft Fragen auf. Nicht nur die nach der technischen Kompetenz beim Einhorn Gorillas, das nach neuesten Meldungen womöglich die Daten von 200.000 Kundinnen und Kunden mehr oder minder offen im Internet herumliegen ließ. Und auch nicht nur die, ob man durch Nachfrage eine Branche unterstützen will, die per „Gig-Ökonomie“ das schlechte alte Tagelöhnerwesen teils in einen Viertelstundentakt beschleunigt hat – und in der sich, siehe „Bringbutler“, die Spätmoderne schon sprachlich als eine entpersonalisierte Neuauflage der Dienstbotengesellschaft präsentiert. Denn natürlich gibt es das alles auch längst in sozialromantischer Version: Als sich Deliveroo aus Deutschland zurückzog, taten sich Teile des Fahrpersonals in Berlin zusammen und gründeten eine Alternative. Khora bietet mit einem Genossenschaftsmodell „den Lieferdienst-Platzhirschen die Stirn“ (der Freitag 15/2021). Und Gorillas ist immerhin zugutezuhalten, dass man laut Selbstdarstellung etwaige Betriebsräte begrüßt.Es bleibt ein anderes Fragezeichen: Sollte all diese supersmarte Technik nicht irgendwie sinnvollere Dinge bewerkstelligen als Essen in Restaurants abzuholen? Was ist das für eine Gesellschaft, in der Gorillas zum Versprechen wird? Nur weil das Unternehmen verspricht, Kartoffeln oder Waschmittel schneller nach Hause zu schaffen, als man sie selbst einkaufen könnte oder es andere Dienste vermögen – ob nun Bringmeister, Bringoo oder Frischepost? Man muss da an einen alten Silicon-Valley-Witz denken: Die heißesten Start-ups sind immer die, welche die Mamas der jeweiligen Gründerjungs am besten ersetzen, von Bude Putzen (Helpling) bis Herumkutschieren (Uber).Zugleich ist es bemerkenswert, dass sich im kalifornischen Erfindungstal wie beim neuesten deutschen Einhorn stets auch ein Rest jener sozialutopischen Ideen findet, die man seit jeher mit neuen Technologien verbindet: Ganz ohne Visionen geht es nicht. So geben auch die Gorillas ein Weltverbesserungsversprechen ab: Habe man die stationären Supermärkte mit ihren Parkplatzwüsten erst einmal besiegt, wären die Städte viel lebenswerter!Bislang wachsen zumal in Berlin zwar eher die Klagen über das Einhorn. Das Verkehrsverhalten seiner „Rider“ macht unter dem Druck des Zehn-Minuten-Lieferversprechens dem Firmennamen offenbar allzuoft Ehre. Und die „hyperlokalen Fulfillment-Center“, von denen dieselben dann losgehetzt werden, privatisieren mit Warenpaletten und Fahrradständern den öffentlichen Raum der Gehwege.Ob dieser Diskrepanz zur Firmenvision bleibt einstweilen offen, ob die Gorillas auf so viel lokale Akzeptanz stoßen werden wie die Investoren kalkulieren. Dass aber auch ein so aggressives Unternehmen noch immer glaubt, derartige Versprechen machen zu müssen, lässt ein wenig hoffen. Ganz geliefert sind wir als Gesellschaft erst, wenn das nicht mehr der Fall ist.