Panzer in Tchaourou

Benin Kritiker des Präsidenten werden nachts verhaftet, die Armee schießt scharf auf Protestierende. Ein Besuch
Ausgabe 02/2020
Präsident Patrice Talon verspricht seinem Land Wohlstand durch Wachstum
Präsident Patrice Talon verspricht seinem Land Wohlstand durch Wachstum

Foto: Dmtry Feoktistov/Itar-Tass/Imago Images

Schau her!“ Malick Diallo dreht seinen Kopf nach rechts, sieht aus dem Fenster und weist in eine bestimmte Richtung. Folgt man seinem Blick, sind Frauen zu sehen, die am Straßenrand stehen und Erdnüsse anbieten, ein Mann, der gerade ein Mobiltelefon verkauft, und ein Panzer, der sein Kanonenrohr direkt auf die Fahrbahn richtet und auf alle Fahrzeuge, die vorbeikommen. „Die sind wegen uns hier“, sagt Diallo und klingt ein wenig stolz.

Damit ist die Bevölkerung von Tchaourou gemeint, einer Stadt mit etwa 100.000 Einwohnern, die in der dünn besiedelten nördlichen Region Benins liegt. Im Zentrum breitet sich ein großer Markt aus, daneben liegen die Villa des einstigen Präsidenten Thomas Boni Yayi und die Straße, auf der Diallo gerade unterwegs ist. Dabei handelt es sich um eine Handelsroute zwischen dem Hafen der Hauptstadt Cotonou und den im Norden angrenzenden Staaten Burkina Faso und Niger. In Tchaourou sind Teile der Trasse frisch geteert. Der Rest jedoch sieht mit unzähligen Schlaglöchern aus wie eine Kraterlandschaft. Mitte Juni 2019 kam hier der Warenverkehr vorübergehend zum Erliegen. Für fünf Tage, ohne Pause. Nicht wegen einer Panne oder der Straßenschäden, sondern weil sich die Bewohner gegen die Politik ihres Präsidenten zur Wehr setzten.

„Die hören dir aber nicht zu, sondern richten gleich ihre Waffe auf dich“, sagt Diallo. Erst jetzt, am Ziel unserer Autofahrt, in einem menschenleeren Hotel am Stadtrand, beginnt er über jene Zeit zu sprechen. Wir sitzen auf der Hotelterrasse hinter Betonmauern, weit entfernt vom Stadtzentrum und ohne von der Hauptstraße aus gesehen zu werden. Hier könne man sich sicher fühlen, so Diallo, der von der Blockade und den Motiven, die dem Aufruhr zugrunde lagen, zu erzählen beginnt.

Am 10. Juni 2019, um drei Uhr morgens, seien drei Männer aus dem Schlaf und aus ihren Familien gerissen worden. Man verhaftete sie unter dem Vorwurf, sie hätten einige Wochen zuvor, um die Parlamentswahlen herum, an einer Demonstration teilgenommen.

Gefängnis oder Exil

Als Diallo davon hörte, lief er kurzerhand mit anderen Bewohnern der Stadt auf die Transitstrecke. Sie hätten ihre Arme in die Luft gestreckt, Trucks gestoppt und die Fahrer aufgefordert, ihre Fahrzeuge quer zu stellen. Einen ausgeklügelten Plan hätten sie nicht gehabt. Auch keine Organisation im Hintergrund, die sie angeleitet hätte. Es seien Frust, Wut und Verzweiflung gewesen, die sie auf die Straße trieben. Und der Glaube, so etwas verändern und die drei Mitbürger aus dem Gefängnis holen zu können. Die Protestierenden blieben selbst dann auf der Straße, als von Süden Panzer kamen. Und die Armee auf sie zu schießen begann – nicht der erste Einsatz von Militär gegen die Bevölkerung, seit Patrice Talon an der Macht ist. Zur Rechenschaft gezogen wird dafür mutmaßlich niemand. Das verhindert ein Gesetz, das erst im November verabschiedet wurde.

Benin ist ein schmaler Landstreifen mit einer Küstenzone zwischen Togo und Nigeria und mit elf Millionen Einwohnern. Vor 1975 hieß das Land Dahomey und gehörte bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1958 zu Französisch-Westafrika. Auf die Kolonialzeit folgten Jahre der politischen Instabilität. Es schwand das Vertrauen der Menschen in eine verantwortungsvolle Politik, auch weil die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer wurde.

So kam es, dass sich in der Bevölkerung der Wunsch nach einer starken Führungsfigur Geltung verschaffte. Patrice Talon, inzwischen 61 Jahre alt, der 2016 für die Präsidentschaftswahl kandidierte, schien der Ersehnte zu sein. Er wollte die Korruption verbannen und versprach Wohlstand durch Wachstum. Der Ertrag dieser Versprechen war ein überwältigender Wahlsieg – mit etwa 65 Prozent der Stimmen wurde er zum Präsidenten bestimmt.

Seither regiert Talon wie ein Manager. Er baut den Staat auf Kosten von Grund- und Freiheitsrechten um. Alles muss dafür herhalten, dass es Ende des Jahres ein Plus beim Bruttoinlandsprodukt zu verzeichnen gibt. Und wem dieser Stil von Governance nicht passt, der muss ins Gefängnis, der geht ins Exil oder verstummt.

Wenn Diallo von den vergangenen Monaten erzählt, blickt er starr in die Ferne. Anfang 30 und Student, bezeichnet er sich als „Teil der Jugend Benins“. Das sei eine Generation, die zwar viele Visionen im Kopf, wegen ihrer finanziellen Lage aber keine Möglichkeit habe, kreativ zu sein. Umso wichtiger ist es für Diallo, auf die Straße zu gehen und Missstände öffentlich anzuprangern. Aber nicht einmal das könne er mehr tun, ohne Angst haben zu müssen, dass ihn eine Kugel treffen könnte. Er lehnt den Oberkörper leicht nach vorn, stützt die Unterarme auf den Tisch und holt tief Luft. „Das hier ist Diktatur pur!“

Seit der Wahl vom 28. April 2019 sind im Parlament nur noch zwei Parteien vertreten, die Talon willig zur Hand gehen. Dagegen machen längst einige Gruppierungen der Opposition mobil, allen voran die Partei von Ex-Präsident Thomas Boni Yayi. Er und Talon kennen sich gut, denn der jetzige Präsident ist nicht neu auf dem politischen Parkett seines Landes. Seit gut 30 Jahren hat er im Hintergrund mit beinahe allen Vorgängern kooperiert, einerseits als Aufkäufer der mehr und mehr privatisierten Baumwollindustrie, wodurch Talon reich wurde, andererseits als Financier für Boni Yayi, bis es zum Bruch mit ihm kam, woran sich bis heute nichts geändert hat.

„Hier können wir in Ruhe reden“, sagt Tairou Aboudou Kabassi und öffnet die Eingangstür seines Hotels. Auch diese Herberge, die teuerste von Tchaourou, ist menschenleer. Gleich im Foyer an der Wand hinter der Rezeption hängt ein großes Bild von Patrice Talon. Kabassi geht daran vorbei, ohne es zu beachten, steigt die Treppe hinauf und stellt sich auf den Balkon. Von hier aus blickt er direkt auf die Villa des früheren Präsidenten Boni Yayi, Tchaourou ist dessen Heimatstadt. Beim Blick über die Nachbarschaft beginnt Kabassi, sich an die Proteste vom Juni zu erinnern.

Amnestie für alle

Von diesem Balkon aus habe er die Blockade der Lastkraftwagen gesehen und die Schüsse gehört. Als die Armee das Feuer eröffnete, hätten einige Jäger aus der Stadt, die ansonsten in der Umgebung auf die Pirsch gehen, ihre Waffen zur Hand genommen, freilich nicht organisiert. Das war schon von Diallo zu hören, davon berichtet nun auch Kabassi. Die Jäger hätten das nur getan, um die Bewohner von Tchaourou zu verteidigen. Ihre „Brüder und Schwestern“, wie sich hier alle nennen.

Die genaue Zahl der Todesopfer ist nicht bekannt. Aktivisten sprechen von vier und mehr, viele seien verletzt worden. Davon wurden die meisten nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern zu Hause von ihren Familien und damit unzureichend versorgt. Zu groß sei die Angst gewesen, in einem Hospital festgenommen zu werden, so Kabassi. Er lässt sich auf einem Sessel nieder und erzählt, er sei unter Boni Yayi Botschafter Benins in Kuwait gewesen. Mittlerweile sei er pensioniert und arbeite im Komitee der Intellektuellen von Tchaourou, einem zivilgesellschaftlichen Zusammenschluss. Gemeinsam mit religiösen Würdenträgern suchte man nach dem Ausbruch der Gewalt das Gespräch mit Präsident Talon und konnte sich darauf einigen, dass Verhaftete freigelassen und beschädigte Gebäude renoviert werden. Zudem konnte Boni Yayi seinen Hausarrest in Cotonou wieder verlassen.

Die Regierung hat eine Erklärung zu den in Tchaourou getöteten Zivilisten monatelang verweigert. Erst Ende letzten Jahres, als ein französischer Journalist den Präsidenten in einem Fernsehinterview auf die von Amnesty International ermittelte Zahl von mindestens vier Toten ansprach, wurde sie von Talon nach mehrmaligem Nachfragen bestätigt. Bei dieser Zahl geht es allerdings mehr um Unruhen in Cotonou, über Tchaourou sagt sie nichts aus. In dieser Stadt geht es nicht zuletzt um den Fall von Prudence Amoussou, einer siebenfachen Mutter, die im Getümmel der Demonstration erschossen wurde, erzählt mir ein enger Verwandter, der sie wenige Stunden zuvor noch getroffen hat. Auf der Suche nach ihrer Tochter habe sie eine Kugel in den Rücken getroffen. Er holt sein Mobiltelefon heraus, legt es auf den Tisch und öffnet ein Video. Man kann sich ansehen, was er erzählt hat. Daneben liegt der Totenschein für Prudence Amoussou, versehen mit dem Vermerk, sie sei „einer Krankheit“ erlegen. Welcher, steht dort nicht.

Präsident Talon muss der Aufstand im Vorjahr beeindruckt haben. Kurzzeitig ließ er lang gehegte Pläne ruhen, die Verfassung zu ändern – bis zum 31. Oktober. Dann stimmten alle Abgeordneten einer Revision der Magna Charta zu, die nun unter anderem verfügt, dass es in Benin erstmals einen Vizepräsidenten gibt, dessen Aufgaben zwar nicht genau definiert sind, der aber in jedem Fall vom Staatschef ernannt wird. Letzterer kann ab sofort ohne Zustimmung des Parlaments im Namen des Staates Kredite aufnehmen. Zugleich wurde ein Amnestiegesetz erlassen. Eigentlich eine gute Nachricht – eigentlich, weil damit internierte Demonstranten nicht freigesprochen, sondern nur freigelassen werden. Die Amnestie schließt Polizisten und Militärs gleichermaßen ein, die nicht mehr belangt werden können, wenn sie Menschenrechte verletzt haben.

Diallo freut sich, dass einige Mitbürger aus Tchaourou inzwischen wieder auf freiem Fuß sind, doch aufatmen kann er nicht. Es gehe ihm nicht nur um die Freilassungen, sondern ebenso um das Gefühl, in keinem Rechtsstaat mehr zu leben. Es komme zu willkürlichen Festnahmen, ständigem Streik- und Demonstrationsverbot. Zudem habe die Bevölkerung an einem Wahltag keine Wahl mehr. Es gehe darum, die Demokratie zu erhalten und das Abrutschen in die Diktatur zu stoppen. „Wie viele müssen eigentlich noch sterben, bis sich jemand für uns interessiert?“

Diallo schaut nach links. Zwei Männer im Anzug laufen durch den Empfangsraum des Hotels und bleiben in Sichtweite stehen. Aber nur für einen Augenblick, dann gehen sie weiter. Diallo atmet kurz auf, wird aber gleich wieder ernst: „Ich bin mir seit geraumer Zeit nicht mehr so sicher, wer mir gerade zuhört.“

Entwicklungsdiktatur

Zuletzt war beim Thema Entwicklungsdiktaturen in Afrika oft von Ruanda und Äthiopien die Rede, inzwischen auch von Benin unter dem Staatschef Patrice Talon. In diesem Staat wird Wert auf ein stabiles Wirtschaftswachstum, einen regen Investitionsfluss aus dem Ausland und nationale Einheit gelegt. Um diese Ziele zu erreichen, werden nicht selten Menschenrechte, demokratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien missachtet. Einzelne Personengruppen erhalten dabei so viel Macht, dass ein autoritäres Regierungssystem die Folge ist. Dem kommt in mancher Hinsicht die Logik des Systems der Entwicklungszusammenarbeit zugute, wenn diese einseitig auf Wachstum ausgerichtet ist.

Vera Deleja-Hotko ist freie Autorin mit Sitz in Wien und London

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