Stimmen der Wahrheit

Spanien Zum Erbe der Franco-Diktatur gehören bis heute anonyme Massengräber. Sie zu finden, ist das Gebot einer würdigen Erinnerungskultur
Ausgabe 26/2015

Mein Blick hat sich verändert, seit ich diese Arbeit mache“, sagt Raúl de la Fuente. „Wenn ich unterwegs bin, sehe ich diese grünen Felder oder einen Baum und denke, wie viele Personen mögen dort liegen?“

In spanischer Erde werden anonyme Gräber mit möglicherweise 140.000 Toten vermutet. Sie stammen aus der Zeit des Bürgerkrieges (1936–1939) und der Diktatur Francisco Francos (1939–1975). Besonders Mitglieder der Guardia Civil und der faschistischen Falange haben immer wieder Menschen erschossen, die zum Teil politisch militant waren, häufig aber nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Francos Gefolgsleute gingen pragmatisch vor und töteten oft in der Nähe von Friedhöfen, um Opfer inmitten der Gräber zu verscharren. Oder man machte sich die Landschaft zum Komplizen und stürzte Menschen in Höhlen oder Schächte. Das Erbe all dessen ist eine kontaminierte Landschaft, sind Gegenden, in denen die Täter die Gräber zu verbergen suchten. Topografisch wie auch gesellschaftlich zeichnen sich solche Landschaften dadurch aus, dass die Toten keine würdevolle Ruhestätte, kein öffentliches Erinnern finden. So entmenschlichen Täter ihre Opfer über den Tod hinaus. Das Gift sind nicht die Toten und die Massaker von einst, sondern Entwürdigung und verweigertes Gedenken.

Die Vereinigung zur Wiedererlangung der Historischen Erinnerung (ARMH) forscht nach Massengräbern, identifiziert – soweit möglich – die Gebeine und gibt sie den Angehörigen zurück, damit diese sie würdig bestatten. Raúl de la Fuente arbeitet als Psychologe für die ARMH.

Zwei Schäfer, drei Guerilleros

Hoch über den weltberühmten Quecksilberminen von Almadén in Castilla-La Mancha thront eine Wallfahrtskapelle. Von dort sieht man in 35 Kilometern Entfernung die Bergketten der Extremadura. Eine schöne Landschaft. Eine Front im Bürgerkrieg. Der Mann mit dem besten Überblick über die Toten dieser Gegend ist David Ramírez López, Anarchist, Staatsbeamter und einer der weltweit wichtigsten Sammler von Waffen und Memorabilia des Bürgerkrieges. Er durchkämmt Flohmärkte und geht mit einem Metalldetektor die alten Frontlinien ab – ebenso wie Felder und Straßengräben auf der Suche nach den Toten Francos. Er ist ein akribischer Forscher und bringt die Archäologen der ARMH auf die richtige Spur: „Wenn wir Patronen finden, haben wir ein Grab.“

Mit Ramírez durch diese Landschaft zu fahren, wird zur gespenstischen Safari über Schauplätze des Krieges und eines zweifelhaften Friedens, der auf ihn folgte. Hier ein Feldlager, dort ein Lazarett, allerorten Tote. Der Palacio de Moret war nach Kriegsende ein Konzentrationslager, in dem die Sieger die gefährlicheren der unterlegenen republikanischen Soldaten aussonderten. Ihr Ende lässt sich unschwer ausmalen. In der Nähe des Ortes Chillón hat die ARMH 2011 ein Massengrab mit neun Toten geborgen, nicht weit von dort liegen zudem drei maurische Soldaten der Franco-Truppen – sie wurden nach einer Gruppenvergewaltigung von den eigenen Leuten standrechtlich erschossen. Und während er diese Stellen ansteuert, erzählt Ramírez von anderen Massengräbern, die er aufgespürt hat, bis hinunter nach Cádiz und Córdoba.

Hinter dem Friedhof von Chillón vermutete er bis vor kurzem 142 republikanische Gefallene. Seine Suche brachte aber nur fünf Tote zum Vorschein, die sich identifizieren ließen: zwei Schäfer und drei Guerilleros, Opfer des Franquismus, erschossen nach 1939. Der Bagger beschädigte zwei der Skelette, bergen konnte man sie bisher nicht – so liegen sie nach wie vor außerhalb des Friedhofs auf freiem Feld, ohne Zeichen, ohne Würdigung, in der Nähe grast ein Pferd. Ramírez urteilt über sein Land: „Die Leute hier haben keine historische Kultur, kein Interesse, keine Motivation – bis dann vier solcher Idioten wie wir daherkommen und sich kümmern.“ Was mit den 142 Soldaten geschehen ist, weiß er nicht bestimmt. Er darf im Archiv von Almadén nicht forschen. Es könnte sein, dass sie im Friedhof liegen und die mehrstöckigen Grabnischen einfach über ihnen aufgerichtet wurden. Es bleibt die Unsicherheit, ob nicht in den 50er Jahren „aufgeräumt“ wurde.

Tal der Gefallenen

In jener Zeit wurde auch an einem anderen Ort planiert, umgebettet und überhöht. Am 1. April 1959, zum 20. Jahrestag seines Sieges, weihte Franco sein monumentales „Tal der Gefallenen“ ein. Ein Kreuzweg zieht sich durch Pinienwälder bis hinauf zur Basilika, die politische Gefangene rund 260 Meter tief in den Berg hineintrieben, teilweise in Handarbeit. Die Anlage ist in eine schöne Landschaft gebettet und ein beliebtes Ausflugsziel mit Picknickbänken und Bolzplatz, freilich auch ziemlich marode. Überragt wird die Anlage vom größten freistehenden Kreuz der Welt, das von Madrid her schon aus vielen Kilometern Entfernung zu sehen ist. Es ist ein Ort faschistischen Märtyrerkultes.

Hierher, an Francos Grab, pilgerten bis vor wenigen Jahren ultrarechte Gruppen, dann wurden politische Kundgebungen verboten. In das Umfeld des Franco-Monuments wurden bis 1983 Gefallene beider Seiten umgebettet, mindestens 33.700, heißt es, vermutlich aber 50.000. Sie liegen hinter den Seitenkapellen, sind nicht nach dem politische Lager oder der Herkunft, geschweige denn namentlich markiert. Ein Teil dieser Toten ist identifiziert, das betrifft vorwiegend die Soldaten Francos. Andere stammen aus Massengräbern und wurden auch ohne das Wissen oder gar gegen den Willen ihrer Familien exhumiert. Diese Gräber sind nicht zugänglich. Einzig die Worte „Gefallen für Gott und für Spanien“ über den verschlossenen Türen deuten auf die Begräbnisstätte hin.

In seinen Publikationen stellt sich das „Tal der Gefallenen“ apologetisch als Mahnmal für den Frieden dar. Das klingt so, als sei der Krieg schicksalhaft über beide Seiten hereingebrochen. Es gibt an diesem Ort keine Tafeln, die über die Hintergründe des Bürgerkrieges oder die Entstehungsgeschichte dieses Erinnerungsortes aufklären. Hier zeigt sich auf makabre Weise ein Glorifizierungstourismus der Anhänger Francos, die nichts einzuwenden haben gegen die andauernde Entwürdigung seiner Gegner. Die hat der Diktator über ihren Tod hinaus unter Adler und Kreuz in seiner Gewalt.

Wir entgiften

Was bewirkt solch ein giftiges Erbe in einer Gesellschaft? Wie ergeht es den Betroffenen, denen einst suggeriert wurde, dass ihre Angehörigen Kriminelle gewesen seien, die mit Verlust, Schuld und Angst leben mussten? Wie gehen Menschen mit dem beschwiegenen Wissen um Landschaft und Geschichte um? Und was gibt den Anstoß, diese Kontamination nicht länger hinzunehmen?

Treibende Kraft ist vor allem die Enkelgeneration, aufgewachsen nach Francos Tod 1975. Sie artikuliert das Verlangen nach Anerkennung sowie symbolischer Wiedergutmachung und hat die Aktivitäten der vergangenen Jahre vorangetrieben. Die Arbeit von Initiativen wie der ARMH – historische Recherche, Exhumierungen, die Ermächtigung der Betroffenen und politischer Aktivismus – setzt der Kontamination etwas entgegen, im Wortsinne „von unten“. Das gilt nicht nur für die Geschichte, auch für den gegenwärtigen Wandel in der Politik. De la Fuente hofft auf eine „zweite Transition“, da die erste – der Übergang zur Demokratie nach 1975 – die Hoffnungen enttäuscht habe und bis heute Eliten das gesellschaftliche Leben kontrollierten, die kein Interesse an Veränderungen hätten: „Sie bremsen den Prozess der Aufarbeitung. Sie wollen nicht, dass die Leute sich mit ihren Verletzungen konfrontieren.“

Insofern gleichen die Exhumierungen nicht zuletzt einem Reinigungsritual. Die ARMH stellt das Trauma der Hinterbliebenen als humanitäres Anliegen ins Zentrum ihrer Arbeit: Die Lebenden brauchen Gewissheit, um mit ihrer familiären Geschichte ins Reine zu kommen. De la Fuente beschreibt die psychosomatischen Beschwerden ebenso wie den sichtbaren Wandel, wenn den Menschen ihre Last endlich genommen wird. So ist eine Exhumierung ein schmerzlicher, psychisch fordernder Prozess, aber letztlich auch ein kathartisches Erlebnis: „Das Wichtigste ist, dass die Betroffenen ihre Wahrheit über die Vorfälle neu zusammensetzen. Wir holen auch die Geheimnisse hervor. Wir entgiften, wir lassen die Stimme der Wahrheit heraus. Nur so kommt man zu einem Verständnis.“

Gebrochenes Schweigen

Das konkrete Beispiel des Massengrabes von Chillón zeigt, was die Aktivisten erreichen können, wie schwierig es aber auch ist, langfristig etwas zu verändern. Im Juni 1939 waren dort neun Männer zwischen 17 und 44 Jahren auf freiem Feld erschossen und in einen Krater gestürzt worden. Es war Ramírez, der die ARMH 2011 auf das Massengrab brachte. Auch de la Fuente war bei der Exhumierung dabei.

Den Ort des Grabes hatte der Sohn eines der Toten markiert. Während der Franco-Diktatur pflegte besonders dieser Mann die Erinnerung an das Geschehen von einst. Nach der Transition errichteten die Angehörigen einen Gedenkstein. Die Exhumierung war technisch schwierig und dauerte fast drei Wochen. Die anfängliche Anspannung löste sich nach wenigen Tagen, die Stimmung an der Stätte wurde gesellig – und vor allem: Die Leute begannen zu erzählen. Schon während der Grabung bot die ARMH ihnen Möglichkeiten, ihrer Trauer eine ritualisierte Form zu geben. Es gab ein Gästebuch, einen Platz für Blumen und Fotos, eine improvisierte Feier. Der sozialistische Bürgermeister befürwortete und unterstützte die Grabung. Im Labor taten dann Forensiker und Anthropologen ihre Arbeit. Und Mitte 2012 erhielten die Familien die Gebeine zurück. Das halbe Dorf geleitete sie in einer Prozession zum Friedhof.

An der Stelle des Massengrabes, das über 60 Jahre lang ein Bezugspunkt war, wurden von den Familien neun Olivenbäume gepflanzt, aber niemand wollte sich danach so recht darum kümmern.

David Ramírez sieht drei Jahre später kaum eine Veränderung im sozialen Miteinander des Dorfes. Die Aktion hat aber wenigstens ein Stigma beseitigt. Und darum ging es ihm: „Man kann diese Toten nicht in der Namenlosigkeit lassen. Das darf sich keine Gesellschaft erlauben.“

Das Grab trägt nun die Inschrift: „Im Gedenken an die Nachbarn von Chillón, erschossen am 3. 6. 1939“. Über 35 Jahre nach Francos Tod überwanden die Angehörigen ihre Angst, die Dinge beim Namen zu nennen. Auch wenn ihn vieles frustriert – dies stimmt Ramírez optimistisch: „Das Schweigen ist gebrochen. Wer vorher den Mund gehalten hat, tut das nicht mehr. Zumindest das ist ein Schritt nach vorn.“

Verena Boos ist Schriftstellerin und war selbst bei der Grabung von Chillón dabei, um für ihren jüngst erschienenen Roman Blutorangen (Aufbau-Verlag) zu recherchieren

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