Angesichts dramatisch steigender Infektionszahlen hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) einen Lockdown für die Wirtschaft gefordert. „Ich sehe keine Alternative“, so Ramelow im MDR; alle geringfügigeren Maßnahmen hätten nicht ausgereicht, sondern zu einer ständigen Verlängerung der Einschränkungen geführt. Kleingewerbe, Kulturschaffende und besonders die von Schulschließungen betroffenen Kinder hätten bisher den Preis für eine unzureichende Corona-Politik bezahlen müssen. Damit müsse nun Schluss sein. Ramelow, der noch bis vor Kurzem als Vertreter eines lockeren Pandemie-Kurses galt, gesteht sein eigenes Versagen ein. Er habe die Dramatik unterschätzt. Nun gehe es darum, den Schutz v
z von Leib und Leben zu garantieren.Dieser Wandel ist begrüßenswert, doch drängt sich die Frage auf: Wenn nicht dem Schutz der Gesundheit, wem dient die bisherige Pandemie-Politik dann?Wenige Tage vor den Beschlüssen über den zweiten „halben Lockdown“ veröffentlichte der mächtige Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) eine Erklärung, in der es heißt: „Trotz der sprunghaft gestiegenen Coronavirus-Infektionszahlen appelliert der BDI (…), von einem erneuten generellen Herunterfahren der deutschen Wirtschaft abzusehen.“Der perfide Spin der IndustrieDie Befindlichkeit des Kapitals wird zum Gradmesser für Umfang und Dauer jeglicher Virus-Eindämmungsstrategie. Die Ökonomie ist nicht zum Wohle der Menschen da, sondern umgekehrt, das Leben der Menschen wird aufs Spiel gesetzt, um weiter unaufhaltsam die Profitmaschine in Gang zu halten. Um nur ja keinen Zweifel an dieser bitteren Logik aufkommen zu lassen, „mahnte“ der bis Ende 2020 als BDI-Präsident amtierende Dieter Kempf „die Bürger zur Eigenverantwortung: Sie könnten mit diszipliniertem Verhalten vermeiden, (…) wirtschaftliche Aktivität zu gefährden. Auf diese Weise könnten die Bürger auch für den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes sorgen.“ Damit geben die Unternehmer*innen und ihre Verbände die Marschroute vor. Zugleich werden in einem perfiden Spin die Fabriken und Büros, in denen täglich Millionen Menschen zusammenkommen, als mögliche Orte der Ansteckung im öffentlichen Diskurs trotz anderslautender Statistiken weitgehend ausgeklammert.Den wirtschaftlichen Interessen entsprechend, hangelt sich die deutsche Corona-Politik faktisch immer entlang des Infektionsgeschehens, um dieses gerade noch so unter Kontrolle zu halten. Dies gleicht dem Versuch, Milch köcheln zu lassen. Doch Tausende Tote sind mehr als nur Brandflecken am Herd; sie zeugen von der Unmöglichkeit dieser zynischen Politik. Setzt sich zudem die britische Mutation des Virus hierzulande durch, so wird die Flamme nochmals etliche Stufen hochgedreht. Dieser Versuch ist gescheitert. Doch was nun?Mehr als 300 renommierte Forscher*innen, darunter erstmals auch RKI-Chef Lothar Wieler, haben sich für einen Strategiewechsel ausgesprochen. In einer Stellungnahme im Fachblatt Lancet fordern sie, dass die Fallzahlen in Europa drastisch gesenkt werden müssen. Die angezielte Inzidenz von 10 Neuinfektionen pro Tag pro Million Einwohner*innen sowie deren konsequente Nachverfolgung und Isolation kommt einer Zero-Covid-Strategie gleich.Dazu braucht es entschlossenes Handeln und einen Shutdown aller gesellschaftlich nicht notwendigen Bereiche der Wirtschaft. Das darf keine Frage der wirtschaftlichen Kosten sein. Es ist genügend Reichtum in unserer Gesellschaft vorhanden, um eine effektive Eindämmungsstrategie so zu organisieren, dass sie Menschen weder gesundheitlich noch ökonomisch in ihrer Existenz bedroht. Die Beschäftigten erhalten auch im Shutdown ihre Löhne von den Unternehmen oder – sofern diese nicht mehr dazu in der Lage sind – vom Staat. Zudem braucht es ein Unterstützungsprogramm für all jene, die ihre Existenzgrundlage bereits verloren haben. Menschen, zumeist Frauen, deren Betreuungs- und Sorgearbeit durch einen Shutdown verdichtet und verlängert wird, müssen auch dort, wo Homeoffice möglich ist, ihre Arbeitszeit reduzieren oder aussetzen können. Das kostet viel Geld. Doch eine inkonsequente Pandemie-Bekämpfung mit geringen Maßnahmen kommt langfristig teurer zu stehen als ein kurzfristiger, effektiver Lockdown. Dies hat eine Studie des Internationalen Währungsfonds bereits im Oktober aufgezeigt. Subventionszahlungen an Unternehmen sind einer harten Prüfung nach unmittelbarer gesellschaftlicher Notwendigkeit und ökologischer Verträglichkeit zu unterziehen. Viele Geschäftsmodelle waren bereits vor der Ausbreitung des Virus nicht nachhaltig; weder sozial, wirtschaftlich noch ökologisch. Die Entscheidung darüber, welche Unternehmen auch im Shutdown weiter in Betrieb bleiben, soll von den Beschäftigten selbst mitbestimmt und nötigenfalls mit Streiks durchgesetzt werden. Dies verhindert, dass gut vernetzte Lobbyverbände die Partikularinteressen einzelner Industriezweige erwirken.Ob Ramelow wirklich die von ihm geforderte „Reißleine“ zieht, bleibt offen. Für einen Shutdown der Wirtschaft braucht es den Druck aus der Bevölkerung, der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften. In solidarischer Perspektive kann dieser Druck zum Werkzeug für eine Zero-Covid-Strategie werden, die die Menschen und ihre Gesundheit – endlich – in den Mittelpunkt stellt.Placeholder authorbio-1