Es ist ein kalter regnerischer Sommertag, an dem Joey Burns und John Convertino in den überraschend gemütlichen Konferenzraum ihres Berliner Plattenlabels bitten, um Interviews zu geben. Sie wirken etwas abgekämpft, geben sich trotzdem herzlich und offen.
Interessiert betrachtet Burns das kleine digitale Aufnahmegerät. Er sagt, er erinnere sich an frühere Interviews, in denen ein Kassettenrekorder die Gespräche aufzeichnete.
Der Freitag: Vermissen Sie solche altmodischen Geräte wie einen Kassettenrekorder?
John Convertino: Ich habe tatsächlich noch einen alten Kassettenrekorder. Wir lieben Kassetten. Bei mir zu Hause liegen die stapelweise rum.
Auch Mixtapes, die Sie mal für Mädchen zusammengestellt haben? Oder umgekehrt solche, die Mädchen Ihnen geschickt haben?
Convertino (lacht): Ja, mehr solche, die ich bekommen habe.
Sie stammen aus Tucson, Arizona. Die Wüste, die Nähe zur mexikanischen Grenze, diese Elemente fließen auch in Ihre Musik ein. Ihr neues Album aber entstand in New Orleans. Warum dieser Ortswechsel?
Joey Burns: New Orleans ist eine großartige Stadt, die unheimlich viel bietet: tolles Essen, viele unterschiedliche Restaurants, Cajun Food. Schon dieser guten Küche wegen ist New Orleans für uns immer eine Stadt gewesen, auf die wir uns während der Tour gefreut haben.
Aber Sie waren nicht nur der Verpflegung wegen dort.
Burns: Nein, es ging uns um mehr. New Orleans ist eine Stadt mit viel Geschichte und Kultur, sehr inspirierend auf unterschiedlichen Ebenen. Das hat uns beeinflusst, und es wäre zu simpel, zu sagen, wir hätten die Platte nur wegen des guten Essens gemacht. Uns hat die Atmosphäre inspiriert. Wir konnten beispielsweise in einem tollen Studio in einer alten Baptistenkirche in Algiers arbeiten. Dieses Viertel liegt gegenüber vom French Quarter, auf der anderen Seite des Mississippi. Das ist ein wunderbarer Ort, alt und voller Geschichten.
Die Gegend um Algiers ist vom Wirbelsturm Katrina verschont geblieben, oder?
Burns: Richtig. Aber die Schäden, die Katrina angerichtet hat und die noch bis heute nachwirken, haben uns gezeigt, dass es auch aus ökonomischer Sicht richtig war, in New Orleans zu arbeiten und das Geschäft dort mit anzukurbeln. Im Grunde war es also aus vielen Gründen der richtige Zeitpunkt, den Standort zu wechseln.
Können Sie das Studio in dieser alten Kirche näher beschreiben?
Burns: Wir brauchten einen Platz, an dem wir wirklich zwölf Stunden am Tag Zeit verbringen wollten und konnten. An dem wir arbeiten und leben wollten. Das Studio The Living Room war der ideale Ort, sehr großzügig und trotzdem sehr gemütlich. Wie das ideale Wohnzimmer.
Convertino: (lacht) Es verwandelte sich zweimal am Tag in ein Esszimmer.
Sie waren also nicht dauernd in den herrlichen Restaurants der Stadt essen?
Convertino: Nein, schließlich mussten wir ja auch arbeiten. Aber es gab diesen günstigen Deal mit dem Studio, das uns einen eigenen Koch stellte. Es war toll, genügend Zeit für die Musik zu haben, ohne sich darum kümmern zu müssen, wo man wann oder wie noch etwas zu essen bekommt, wenn man mit den Aufnahmen durch ist.
Hatten Sie in New Orleans keine Sorge, den typischen TucsonSound zu verlieren?
Burns: Im Grunde spielt es keine große Rolle für uns, wo wir Songs schreiben und aufnehmen. Und wir haben auch schon Songs in Nashville produziert. Natürlich existiert diese bestimmte Atmosphäre, die uns in Tucson umgibt, aber unsere musikalischen Einflüsse reichen weiter als bis zum US-amerikanischen Südwesten. Und unsere Vision umfasst Musik aus aller Welt.
Trotz der vielseitigen Einflüsse assoziieren die Menschen Ihre Musik mit der Wüste Arizonas. Wie erklären Sie sich das?
Burns: Es liegt nahe, zum einen wegen des Namens unserer Band. Calexico heißt ein kleines Grenzstädtchen, das je zur Hälfte die Namen ‚California‘ und ‚Mexico‘ im Namen trägt. Zum anderen kommen wir nun mal selbst aus der Region. Und dann tauchen eben immer wieder die typischen Mariachi-Trompeten in unseren Songs auf. Deshalb ist es für uns auch völlig in Ordnung, dass die Leute unsere Musik mit der Wüste und der mexikanischen Kultur verbinden.
Die Trompeten bedienen das folkloristische Ideal. Entspricht Tucson überhaupt dieser mexikanisch beeinflussten Idylle oder ist es wie in jeder anderen normalen Großstadt in den USA?
Convertino: Es hat von beidem was. Im Osten der Stadt wirkt alles typisch städtisch und amerikanisch. Meilenweit stehen Malls am Straßenrand. Downtown dagegen gibt es viele kleine Cafés. Dort wirkt alles gemütlicher und traditioneller. Aber die Stadt wächst kontinuierlich und mit ihr das Urbane.
Burns: Ja, es verändert sich alles sehr in Tucson, aber die Landschaft drum herum prägt den Mythos mindestens genauso, wie das Stadtbild downtown. Ich bin im Süden Kaliforniens aufgewachsen. Dort ähnelt alles sehr der Umgebung in Tucson – die Wüste, die Nähe zur Grenze. Auch historisch gibt es Gemeinsamkeiten, und man spürt den Einfluss Mexikos über die Jahrhunderte. Schließlich war Kalifornien im 19. Jahrhundert noch mexikanische Provinz.
Ist dieser traditionelle Einfluss noch echt oder konstruiert, um Touristen anzulocken?
Burns: Nein, das sind schon echte historische Stätten: Die alte spanische Missionskirche in Tucson, San Xavier del Bac, stammt zum Beispiel aus dem 18. Jahrhundert.
Die Kulturen vermischen sich längst, aber weil die USA illegale Einwanderung fürchtet, gilt die Grenze zwischen Mexiko und den USA als eine der am stärksten bewachten weltweit.
Burns: Das ist ein sehr komplexes Thema. Aber ich denke, Menschen sind schon lange bevor es den Staat Arizona gab, in diese Gegend gezogen. Es gibt seit jeher Bewegung zwischen diesen Regionen, die heute durch Grenzen getrennt sind.
Convertino: Mein Wagen ist vor einiger Zeit liegen geblieben. Ein junger Mann mit amerikanisch-mexikanischem Hintergrund nahm mich in seinem Auto mit, und wir sprachen über die Grenze.
Was hat er erzählt?
Convertino: Zu der Zeit als seine Großmutter jung war, gab es überhaupt keine Grenze, also auch keine Passkontrolle im heutigen Sinne. Da war nur eine kleine Station, die als Grenze fungierte, aber die Leute konnten ohne Probleme hinübergehen und kehrten unkompliziert zurück. In einer sehr kurzen Zeit ist nun diese verschärfte Grenze hochgezogen worden – und das in erster Linie aus ökonomischen Gründen.
Sie sehen das kritisch?
Convertino: Wir sind doch zwei demokratische Staaten. Die Menschen kommen und gehen, um Geld zu verdienen. Wo ist das Problem? Ich kann da keines erkennen.
Burns: Du kannst die Einwanderung auch nicht stoppen, indem du eine Mauer baust.
Seit 2006 baut die US-Regierung verstärkt die Grenzanlagen aus. Ist es eine richtige Mauer oder bloß ein Zaun mit Grenzposten?
Burns: Beides.
Convertino: Wenn du nach Calexico kommst, gibt es tatsächlich eine Mauer mit bewaffneten Grenzposten. Sie ähnelt der Berliner Mauer. Streckenweise gibt es einen Zaun, durch den man auf die andere Seite schauen kann. Je mehr du in das unbewohnte Land, in die Wüste kommst, desto mehr verschwindet diese künstliche Begrenzung, bis sie schließlich ganz aufhört. Dort versuchen die Leute dann natürlich herüberzukommen, und nicht wenige kommen bei diesem Versuch ums Leben.
Burns: Oder sie werden von der Border Patrol aufgegriffen. Das ist die staatliche Grenzpatrouille, die illegale Einwanderer aufspüren soll. Es gibt aber auch privat geführte Organisationen wie die sogenannten Minutemen, die die Region auf eigene Faust kontrollieren und es der Border Patrol melden, wenn sie jemanden entdecken.
Wie sehr beeinflusst die Nähe zu Mexiko sonst Ihren Alltag? Fahren Sie am Wochenende über die Grenze, um etwas Bestimmtes zu kaufen, wie man in Deutschland nach Holland fährt, wenn man Käse braucht?
Beide: Wir gehen zu Food City.
Burns: Das ist ein Supermarkt mit überwiegend mexikanischen Produkten.
Convertino: Dort gibt es geröstete Chilischoten, die ganz frisch in einem Käfig über dem offenen Feuer geröstet werden. Die sind dort unheimlich groß und kosten fast nichts.
Die isst man dann pur?
Burns: Ja, man kann sie mit der Hand direkt in den Mund stecken. Sie sind köstlich.
Und wahrscheinlich sehr scharf.
Burns: (auf deutsch) Ein bisschen.
Convertino: Du kriegst fünf Pfund für einen Dollar.
Burns: Normalerweise kriegst du ein Pfund für fünf Dollar. Aber dort sind sie günstig und super lecker. Außerdem fahren wir gerne nach Puerto Peñasco. Von Tucson aus fährst du drei Stunden mit dem Auto und hast Strand und Meer.
Das Meer? In der Wüste?
Burns: Puerto Peñasco liegt am Golf von Kalifornien. Es ist ein richtiger Ferienort.
Wie bewegen Sie sich denn noch fort in Tucson? Fahren Sie auch Fahrrad?
Burns: Na klar, John und ich haben beide Fahrräder. In Downtown kann man ganz bequem Fahrrad fahren. Außerdem bauen sie in Tucson zurzeit an einer Straßenbahn, die übernächstes Jahr fertig sein soll.
Convertino: Mir ist auch aufgefallen, dass es in den letzten Jahren immer mehr Fahrradwege und demnach auch mehr Fahrradfahrer gibt.
Burns: Man kann seine alten Fahrräder außerdem einer Organisation überlassen, die vor allem Kinder einlädt, um ihnen zu zeigen, wie sie ihr Fahrrad nutzen, pflegen und auch reparieren können. Man spürt, dass es der Stadt wichtig ist, einen positiven Beitrag für die Umwelt und die Gemeinschaft zu leisten.
Gibt es in Tucson einen Ort, an dem Sie sich besonders gerne aufhalten, der Sie auch für die Songs inspiriert?
Burns: Ich glaube, Musik findet immer ihren Weg, dich an einem bestimmten Ort zu erreichen. Das kann überall sein. Vielleicht fahre ich gerade eine Straße entlang und denke an nichts, aber plötzlich ist die Inspiration da. Man muss sich bewusst Räume schaffen, die neu und anders sind. Für Algiers war es deswegen auch so bedeutsam, an einen anderen Ort zu gehen.
Sachen packen und aufbrechen.
Ja, eine neue Perspektive einzunehmen kann da sehr helfen. Wir sind ja beide auch privat gerade umgezogen.
Weg aus Tucson?
Burns: Ich bin zusammen mit meiner Familie innerhalb der Stadt umgezogen, John aber ist ganz weit weg aus Tucson.
Convertino: Ja, ich bin vor einigen Wochen nach Ohio gezogen. Meine Frau hat dort einen Job gefunden, und für mich war es auch ein guter Zeitpunkt, nach 20 Jahren die Stadt zu verlassen und mal woanders hinzugehen.
Wie definieren Sie Heimat oder Zuhause?
Convertino: Zuhause ist wo das Herz ist. Es gibt eine deutsche Band, Kettcar, die singt genau diese Textzeile: „Home ist where your heart is“.
Burns: Die wissen Bescheid.
Zelebrieren Sie ein bestimmtes Willkommensritual, wenn Sie nach einer Tour wieder daheim ankommen?
Convertino: Ein Mitglied unserer Band hat tatsächlich ein Ritual, über das ich sehr lachen muss. Denn wenn ich nach Hause komme, bin ich wieder der Familienmensch, der am nächsten Morgen die Kinder zur Schule bringt. Zurück im Papa-Job. Es ist für diejenigen, die keine Kinder haben, einfacher, zu Hause erst mal ein langes Bad zu nehmen und sich von der Freundin einen Whisky auf Eis an die Badewanne bringen zu lassen.
Burns: So sieht das Ritual aus?
Convertino: So habe ich es gehört.
Wer aus der Band ist es?
Burns: Das verraten wir nicht.
Das ist sicherlich einer der deutschen Jungs.
Convertino: (lacht) Ja, das könnte sein. Einer von diesen Europäern.
Das Gespräch führte Verena Reygers
Calexico fanden den Namen für ihre Band bei einer Fahrt durch die Wüste, und zwar auf dem Straßenschild eines gleichnamigen Grenzstädtchens.
Calexico, das liegt an der kalifornisch-mexikanischen Grenze, dem früheren Land der indianischen Ureinwohner. Joey Burns, Sänger, Gitarrist und Songwriter von Calexico, und John Convertino, Schlagzeuger und Multiinstrumentalist, starteten ihre musikalische Karriere bei der Underground-Indieband Giant Sand, bevor sie Mitte der neunziger Jahre Calexico gründeten.
Die amerikanischen Wurzeln sind unverkennbar – ihr musikalischer Stil ist eine Mischung aus verschiedenen Richtungen: Mariachi-Sound, Tex-Mex-Folklore, Country-Rock, Western, Latin-Jazz und Desert-Rock, manchmal sogar Klassik.
Ihr Sound wird gerne mit der Atmosphäre der Wüstenstadt Tucson assoziiert.
Die dauernde Begegnung mit der Grenze inspirierte auch Songtitel wie „Crystal Frontier“ oder „Across The Wire“.
Calexico traten im Tom Cruise-Film Collateral als Barband auf und lieferten zahlreiche Songs zum Soundtrack des Bob-Dylan-Biopics I’m Not There. Als Band spielten sie außerdem schon mit Nancy Sinatra, Willie Nelson oder Lambchop. Erfolgreich sind Burns und Convertino aber vor allem in Europa.
Algiers, ihr siebtes Album, ist überwiegend in New Orleans entstanden. Die Platte kommt in Deutschland am 7. September heraus. Mitte September startet dann die Tournee, die Calexico auch nach Köln, Hamburg und Berlin führen wird. rey
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