Das Beth-Ditto-Phänomen

Musik-Kolumne Size doesn't matter, und Susan Boyle und Paul Potts waren nur der Anfang: Nicht nur bei Castingshows werden Menschen zu Stars, die ihren Body-Mass-Index nicht einhalten

Der Trend hat viele Namen: Susan Boyle, Paul Potts und neuerdings auch Sarah und Meike. Denn plötzlich werden in Castingshows wie "Popstars" Menschen zu Gewinnern, denen medial sonst kaum eine glamouröse Rolle zugestanden wird.

Susan Boyle etwa, die bei "Britain’s Got Talent" auch über die Insel hinaus für Schlagzeilen und You-Tube-Klicks sorgte, nannte der US-Kolumnist Cal Thomas "diese dickliche, schlecht frisierte Frau", und er fragte, warum "Menschen so stark auf eine 48-jährige Schottin in einem Wal-Mart-Kleid reagieren". Als ähnliches Phänomen eroberte Paul Potts die Zuschauerstimmen: Dick, mit schlechten Zähnen und einer eher mausgrauen Erscheinung statt selbstbewusstem Starappeal. Das alles spielte aber ab dem Moment keine Rolle mehr, ab dem er seine Opernarie sang. Und heute ist Potts ein Star, ohne das sein Aussehen noch irgendeine Rolle spielt.

Auch bei der deutschen Castingshow X-Factor schafften es Big Soul sicherlich nicht deshalb ins Finale, weil sie ihren Body-Mass-Index so brav einhalten.

Wenn Musikerinnen Vorbilder sein sollen, dann eben nicht, weil sie unerreichbare Ideale verkörpern, sondern weil sie authentisch sind. Und dazu gehört eben Unperfektion. Diese Einstellung vonseiten der Zuschauer setzt sich auch in der aktuellen Staffel von Popstars durch, in der erst die "dicke" Sarah und dann die unscheinbare Meike in die neue Girlband gewählt wurden. "Die erste Dicke, die es bei POPSTARS in die Finalphase schafft - wäre das nicht geil?!", wird die 22-Jährige im Vorfeld der entscheidenden Show zitiert.

Auch das Teenie-Blog I love Radio äußert sich "positiv überrascht". Sarah habe zwar nicht "die ideale Figur eines Popstars", aber sie überzeuge mit ihrer Stimme und ihrer Präsenz auf der Bühne. Davon konnten sich auch die Besucher eines Baseballspiels im US-Bundesstaat North Carolina überzeugen, wo Sarah in einer Popstars-Folgs die amerikanische Nationalhymne sang:

Wenn man bei Google die Stichworte "dick" und "Popstar" eingibt, steht ein Name ganz oben: Beth Ditto. Die Sängerin von The Gossip ist quasi die Vorzeige-Dicke im Popbiz. "Lesbisch, fett und genau deshalb ein Star", schreibt Thomas Winkler auf Spiegel Online über die Amerikanerin. Dittos eigentlicher Bonus ist aber ihr Charakter, weder versucht sie abzunehmen, noch lässt sie sich Extensions einpflanzen oder die Zähne richten. Sie trägt immer noch den schrägen eigenen Klamottenstil, Hauptsache kurz und eng, und darf trotzdem neben Karl Lagerfeld vor den Kameras posieren. Ditto ist ein Ausnahmephänomen, hat sich den Erfolg mit ihrer Band hart erarbeitet. Nichts mit Castingshow und schnellen Spotlight. Trotzdem scheint sie eine Vorreiterfunktion zu haben, wenn es um die Nachsichtigkeit gegenüber weiblichen Idealen in der Bewertung junger Talente geht.

Sarah von "Popstars" hat zwar schon 16 Kilo abgenommen und erschien zur letzten Live-Sendung als optische Kelly-Clarkson-Kopie. Trotzdem ist es spannend zu sehen, wie eine Person, die so gar nicht ins überkritische Medienbild zu passen scheint, alle restlos überzeugt. Der Bezug zu Kelly Clarkson ist übrigens auch deshalb eine interessante Nachahmung, weil die "American Idol"-Gewinnerin auch immer mal gerne auf ihr Gewicht angesprochen wird. Das People-Magazin Bunte schreibt, dass die zweifache Grammy-Gewinnerin keine Lust habe, sich an einen strengen Ernährungsplan zu halten. Weder versuche sie, bewusst zuzunehmen, noch Gewicht zu verlieren. Sie lebe einfach, wird die Sängerin zitiert.

Was erst beim zweiten Blick auffällt, egal ob dick oder dünn, hübsch oder hässlich, x- oder o-beinig, das Aussehen spielt trotzdem eine nicht tot zu kriegende Rolle in der Berichterstattung. Nicht anders erging es der Britin Adele, als sie 2008 mit dem Song "Chasing Pavements" die Charts dominierte. In Interviews wies sie darauf hin, im Leben keine Diät machen zu wollen. Wenn im Januar Adeles neue Platte erscheint, darf man gespannt sein, wie sehr nicht nur Stimme und Songwriting der Musikerin gescannt werden sondern auch ihr äußeres Erscheinungsbild. Aber vielleicht haben es Susan Boyle, Paul Potts und nun auch Sarah geschafft, zumindest ein bisschen dieses Ideal aufzubrechen und sich darauf zu konzentrieren, was hier eigentlich wichtiger ist, nämlich die Fähigkeit, mit der Musik zu berühren.

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Geschrieben von

Verena Reygers

Musikfetischistin, Feministin, Blames it on the Boogie

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