Als Björk vor zwei Wochen ihr neues Album Biophilia veröffentlichte, befand sie sich auf dem internationalen Musikmarkt in bester isländischer Gesellschaft. Denn die Isländer können nicht nur schreiben, sondern auch wunderbare Musik machen. Und weil wir uns des nahenden Winters wegen ohnehin bald nach Hobbys umsehen müssen, die die Dunkelheit vertreiben, gucken wir doch mal, wie die das im Norden so machen mit dem musikalischen Zeitvertreib.
Neben Superstar Björk gab es in diesem Jahr noch anderes Interessantes von der Insel. FM Belfast und Retro Stefson beschallten Rest-Europa mit Klängen, die Eiszapfen in Sekundenschnelle zum Schmelzen brachten.
Beide Bands sind in diesem Sommer querfeldein auf europäischen Festivaläckern aufgetreten. FM Belfast habe ich im Juli beim Melt! gesehen. Dort begeisterten sie mit dem Temperament eines erloschenen Vulkans eher mäßig. Ihre Platte Don’t Want To Sleep dagegen lief bei mir zuhause einige Zeit rauf und runter. Das empfiehlt sich auch jetzt wieder, hat die drei- bis achtköpfige Band doch den letzten Song auf dem Album "Happy Winter" genannt.
Über Retro Stefson bin ich schon vor Monaten beim Konzert von The Go! Team gestolpert. Gestolpert ist fast zu zaghaft. Wer den britischen Wirbelwinden von The Go! Team dermaßen den Orkan aus den Segeln nehmen kann, der ist unumgehbar. Retro Stefson scheuen sich nicht, ihrem Elektro mit ordentlichem Afro-Beat einzuheizen und sind dabei so sympathisch indie, dass man die auch in jeder Wohnzimmerbar auftreten lassen würde. Seit 2006 spielen die Isländer, die sich aus dem Kindergarten kennen, zusammen. 2006 erschien ihr Debüt, in diesem Jahr nun ihre Durchstarterplatte.
Sowohl Retro Stefson als auch FM Belfast hatten in diesem Jahr aber noch ganz andere Auftritte: Im Film Backyard, den Árni Sveinsson über ein isländisches Hinterhofkonzert gedreht hat.
Umwerfend, wie "Location-Manager" Árni Rúnar seine Nachbarn per Brief zum Konzert einlädt und ja, auch das Wellblechhüttendach muss dran glauben. Ein Film, der glücklich macht. Wie war das noch mit "Happy Winter"? Backyard lief übrigens schon auf dem Filmfest Hamburg. Auf dem zugehörigen Soundtrack sind neben Retro Stefson und FM Belfast auch Múm, Hjaltalín und Sin Fang zu hören; Bands, die hierzulande schon lange nicht mehr nur in Hinterhöfen spielen.
Nicht im Hinterhof, sondern im Vordergrund spielen die Bands beim Airwaves Festival. Das Airwaves Festival funktioniert nach dem Prinzip vom Hamburger Reeperbahnfestival oder dem Eurosonic in Groningen: Zahlreiche Bands spielen an drei Tagen in unterschiedlichen Clubs der Stadt. Oder wie die Organisatoren es ausdrücken: "Es ist vier Uhr morgens, du warst in fünf Clubs, hast zehn großartige Bands gesehen, fünfzehn neue Freunde gewonnen ... und es ist erst Tag eins."
Seit 1999 findet das Festival in Reykjavík statt, mit internationalen Acts, aber auch haufenweise isländischen Nachwuchsstars. In diesem Jahr stand neben all den unaussprechlichen Namen auch Björk mit auf dem Schedule. So ganz selbstverständlich. Island rockt!
Einen Blick auf das Festival wirft auch der Dreiminutenblog und verlinkt so wunderbare KünstlerInnen wie Of Monsters and Men. Ähnlich wie Retro Stefson und FM Belfast sind auch Of Monsters and Men ein bunt zusammen gewürfeltes Konglomerat an Musikern. Eine Band wie ein Dorf. Auch das Kollektiv Útidúr tummelt sich auf dem Airwaves und ansonsten in der elterlichen Wohnung zum Videodreh.
Útidúr (from Iceland) plays "The Glow / Retreat": an exclusive binaural set from BinauralAirwaves.com from Binaural Airwaves on Vimeo.
Bei meinen Recherchen über Björk habe ich gelernt, dass der isländische Nachname ein Hinweis auf das Geschlecht ist. Jungs bekommen an den Vornamen – meistens des Vaters – ein "son" angehängt, Töchter ein "dóttir". Björk heißt mit Nachnamen Guðmundsdóttir, also Tochter der Guðmunds.
Beim Airwaves dominieren aber Bandnamen jenseits dieser Tradition. Bands wie Bloodgroup oder The Way Down geben sich englische Namen, andere wühlen tief in der Spaßkiste und nennen sich "Karius Baktus" oder "IKEA SATAN".
Die Künstlerin Sóley heißt schlicht so wie im wahren Leben. Und sie macht auch unabhängig vom Airwaves-Festival von sich reden. Über die Isländerin konnte man schon beim Internetradio Byte FM stolpern. Pinky Rose hat sie vor einigen Wochen in ihrer Sendung Stunk und Schmu vorgestellt. Dort ging es um "zarte Lebensweisheiten im Indie-Folk-Gewand", interpretiert von "alten Koryphäen und neuen Sibyllen". Sóley steht sonst als Sängerin der Band "Seabear" auf der Bühne, im September aber solo, wie bei ihrem Konzert in Hannover.
Der Do-It-Yourself-Gedanke ist klar ersichtlich und ähnelt ein bisschen dem, den Útidúr für ihren Wohnzimmer-Videodreh genutzt haben. Übrigens hat Sóley noch einen Song mit dem grandiosen Titel "About Your Funeral" im Repertoire. Für diejenigen, für die ein "Happy Winter" nur noch mehr Depressionen bereithält, ist das vielleicht eine Alternativ-Song.
Die KünstlerInnen, die sich nicht auf den D.I.Y.-Gedanken verlassen, suchen sich richtige Produzenten. Zum Beispiel Valgeir Sigurðsson, der schon für, na klar, Björk arbeitete, aber auch für die Französin Camille, Coco Rosie und Bonnie Prince Billy. Zuletzt hat sich die Schweizerin Olivia Pedroli bei ihm eingenistet, um ihr drittes Album The Den produzieren zu lassen. Olivia Pedroli ist zwar Schweizerin, hat ihr aktuelles Album aber eben in Reykjavik bei besagtem Sigurðsson produzieren lassen.
Olivia Pedroli - video clip - The Day from Olivia Pedroli on Vimeo.
Streicher und eine puristisch anmutende Sängerin, deren Stimme mit unaufdringlicher Wucht überrascht. Ein bisschen klingt Pedroli, als sei sie aus einem vergangenen Jahrhundert gekommen, um uns mit ihren Songs zu durchdringen. Klingt gespenstisch. Nicht für IsländerInnen – da gehört der Glauben an andere Welten zum Alltag – so wie die Musik.
Wer noch weitere füßewärmende oder das Winterdunkel beschwörende Songs braucht, der schaut bei Nordische-Musik.de vorbei. Dort lässt sich nach weiteren isländischen Bands stöbern – und wenn der Winter länger dauert, auch noch nach anderen schneeumwehten Musikernationen.
Verena Reygers schreibt in ihrer zweiwöchentlichen Kolumne über Genderthemen in der Musikbranche. Diese erscheint immer montags im Wechsel mit der Gender- und Bildungskolumne von Katrin Rönicke.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.