Man kann die Geschichte von Liz Murray auf zwei Arten erzählen. In der US-amerikanischen Version heißt sie From Homeless to Harvard, so steht es auf dem Buch, das den Werdegang der jungen Frau erzählt, die es aus der Obdachlosigkeit an die Elite-Uni Harvard geschafft hat. Murray aber stört die Art, mit der ihre Geschichte verkauft wird. In Deutschland ist sie nun unter dem Namen Als der Tag begann erschienen.
Während ihrer Lesereise hat Murray Zeit für ein Treffen in einem Hamburger Luxus-Hotel. Den uramerikanischen Mythos „vom Tellerwäscher zum Millionär“, den verkörpert sie doch, oder? Sie lacht kurz, als habe man einen schlechten Witz erzählt: „Ich denke sehr viel darüber nach und frage mich, was das überhaupt heißen soll“, sagt sie mit zweifelndem Blick. „Es macht mich traurig, Erfolg am materiellen Reichtum zu bemessen. Es gibt unterschiedliche Wege, erfolgreich zu sein. Menschen, die es schaffen, nüchtern zu bleiben, ihre Miete zu bezahlen, ihren Kindern täglich etwas zu Essen geben zu können. Das ist für mich Erfolg.“
Eliteuni und Sozialhilfe
Liz Murray ist 1980 als Tochter drogenabhängiger Eltern in der New Yorker Bronx zur Welt gekommen. Sie ist 16, als ihre Mutter an Aids stirbt. Der Vater wohnt längst in einem Männerheim, die ältere Schwester ist beim letzten Freund der Mutter untergekommen. Murray bleibt vorerst ohne Bleibe, schläft bei Freunden, vertreibt sich die Nächte in U-Bahnwaggons. Sie hat auch noch kein Dach über dem Kopf, als sie beginnt, wieder zur Schule zu gehen und ihren Abschluss nachzuholen. Mit Bestnoten und einem Essay, in dem sie ihre ungewöhnliche Geschichte erzählt, bewirbt sie sich schließlich um ein Stipendium der New York Times, das ihr ein Studium ermöglichen soll. Sie gewinnt und wird in Harvard aufgenommen. An dem Tag, als sie der Brief mit der Bewilligung erreicht, streitet sie morgens um ihren Sozialhilfezuschuss.
„Ich dachte immer, ich stecke fest in diesem Leben, und dann erkannte ich, dass ich in der Lage bin, Dinge zu verändern. Was morgen ist, ist das Ergebnis dessen, was ich heute getan habe.“ Ein Schlüsselmoment war, als sie den Sarg ihrer Mutter in der Erde verschwinden sah. Sie wollte unbedingt den Schulabschluss nachholen. Mittlerweile arbeitet sie als Psychologin und Motivationstrainerin.
„Ich hatte viele Momente, in denen ich aufgeben wollte, nicht erkennen konnte, wofür ich das überhaupt alles auf mich nehme.“ In ihren Jeans und dem schlichten T-Shirt könnte die 30-Jährige immer noch als Studentin durchgehen, sie sieht blass aus, wie jemand, der meist am Schreibtisch sitzt.
In ihrem Buch und in vielen Gesprächen verweist sie auf soziale Programme und die Hilfe einzelner, von Lehrern und Freunden. Sie selbst unterstützt heute die Initiatoren der Broomestreet Academy, einer Highschool, die im August in New York eingeweiht wird und die ihr Lehrangebot besonders an obdachlose Kinder und Jugendliche richtet. „Ich glaube nicht“, sagt sie, „dass du es ohne Hilfe schaffen kannst, wenn du in einer Situation bist, wie ich es war. Man braucht beides: den Willen, da rauszukommen und die Unterstützung anderer“. Murray kritisiert, dass das in den USA nicht so selbstverständlich sei.
Soziale Programme werden je nach Bundesstaat unterschiedlich konsequent umgesetzt. Es gebe zwar ein paar sehr gute Non-Profit-Organisationen, die müsse man aber erst mal finden. „Und nicht zuletzt kostet es auch eine gewisse Überwindung, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil der amerikanische Grundgedanke heißt: Es ist nur eine Frage harter Arbeit, im Leben klar zu kommen.“ Die Frage, ob man selber stark genug ist. Eine individuelle Frage.
Murray ärgert sich über das Leistungsprinzip, durch das Menschen, denen es nicht gelingt, ihren Verhältnissen, Schwächen oder Misserfolgen zu entfliehen, als Versager abgestempelt werden. „Ich halte es unbedingt für notwendig, dass unsere Steuergelder stärker in soziale Programme investiert werden, in kostenlose Universitäten vor allem, denn es kann doch nicht sein, dass Jugendliche, die in ihrem Leben etwas Sinnvolles leisten und zum Beispiel Arzt werden möchten, aufgrund ihrer Herkunft daran gehindert werden.“ Solche Sätze könnten auch von Politikern stammen, aber Murrays gesellschaftliche Anliegen sind aus der eigenen Existenz auf der Straße erwachsen.
Ihre Geschichte wird in den USA nun als leuchtendes Beispiel für die Machbarkeit des amerikanischen Traums verkauft – doch eigentlich will Murray nur ein ganz normales Leben führen. Gerade erwartet sie ihr erstes Kind. Und so banal es klingt, eine Familie zu haben, einen Beruf, der sie fordert, und Freunde in der Nähe, das sei eigentlich alles, was sie sich wünsche und was sie brauche, sagt sie. Weder Millionärin wolle sie sein noch anderweitig materiell verwöhnt werden.
Und was verdienst du so?
Murray erzählt noch, dass sie es nicht leiden könne, wenn Menschen nur interessiert, was für einen Job man habe und wieviel Geld man verdiene. „Auf Partys wird das immer als Erstes gefragt. Es geht selten darum, ob du dich in deinem Beruf wohl fühlst, sondern darum, dass es dir nicht besser geht als ihnen“.
Murray klingt energisch und betont, wie wichtig ihr die Zeit sei mit Menschen, die ihr nahe stehen. Wie wichtig es sei, die Muße zu haben, nie mehr nachdenken zu müssen, wie sie sich etwas zu essen organisiert oder bei wem sie kommende Nacht auf der Couch oder auf dem Boden schlafen kann. Luxus, das ist für Murray das Leben, das sie jetzt führen kann.
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